: Solange Emil mit den Detektiven...
LesArt, das einzige Kinderliteraturhaus Deutschlands, ist in Finanznot ■ Von Volker Weidermann
„Kommt nich' in Frage, daß ich die Denise küsse, ehrlich, ohne mich, das könnt Ihr mit mir nich' machen.“ Dabei hat man Konstantin doch eben erklärt, daß er Denise nicht wirklich einen Kuß auf die Hand geben muß, sondern nur so tun soll als ob. Schließlich macht er es doch, aber jeder soll wissen, daß er es nicht gerne tut. Und daß er so rot wird im Gesicht, das liegt wohl nur an der Sonne.
Heute vormittag ist Projekttag im Kinderliteraturhaus LesArt in der Weinmeisterstraße; eine fünfte Klasse aus Charlottenburg ist da, die eine Geschichte hört und sie danach entweder weiterschreibt, etwas dazu bastelt, malt oder ein Theaterstück daraus macht. „Iiieeh, küssen!“ ist das Thema, ein Buch von Günter Jankowiak, und die Lehrerin meinte, seit der letzten Klassenfahrt sei das ein enorm aktuelles Thema in der Klasse. Das zeigt sich auch an dem Eifer, mit dem die SchülerInnen vor der Lesung erzählen, was sie am Küssen so doof oder so prima finden: „Küssen ist peinlich, weil man davon Kinder bekommt“ oder: „Die Jungs, die küssen immer so dolle.“
Manchmal kommen Schulklassen eine ganze Projektwoche lang jeden Vormittag und beschäftigen sich intensiv mit einem Buch, erlernen eigene „LesArten“. Begleitet werden diese Projektwochen von KünstlerInnen, SchauspielerInnen, GrafikerInnen oder PuppenspielerInnen, die ganz eigene Umsetzungsformen eines Buches mit den Kindern ausprobieren. Das Programm ist schon so populär an den Berliner Schulen, daß längst nicht alle Klassen, die wollen, auch wirklich kommen können.
Eine übergroße Nachfrage herrscht auch bei vielen anderen Veranstaltungen: Bei den literarischen Spaziergängen etwa, auf denen man beispielsweise die Stadt mit Emil und den Detektiven kennenlernt. Oder bei den Lesenächten im Gespensterzimmer, den „Verfilmte Literatur“-Abenden etc. Die Kinder kommen aus Kladow, Treptow oder Zehlendorf in ihr Literaturhaus nach Mitte. 8.000 sind bisher dagewesen.
LesArt – das sind: die Leiterin Sabine Mähne, Claudia Rouvel von der Programmgestaltung, Ingrid Baumgart im Sekretariat und der Techniker Peter Kolano mit einer halben Stelle. In Wochenendseminaren wird auch LehrerInnen, ErzieherInnen und BuchhändlerInnen eine schulpraktische Art der Literaturvermittlung nahegebracht. Neben diesem Full-house- Programm müssen die vier derzeit auch noch ihre Räumlichkeiten selber streichen, weswegen das Angebot im Juli und August etwas reduziert ist. Das läßt sich nicht ändern, denn finanziell geht es LesArt gar nicht gut.
1990 wurde das Haus für Kinder- und Jugendliteratur der DDR abgewickelt. Der Verein Kinder- und Jugendbuch bekam vom letzten DDR-Kultusminister damals eine einmalige Zahlung von einer Million Mark als Starthilfe, um ein neues Kinderliteraturhaus aufzubauen. Man richtete sich in dem vierstöckigen Haus in der Weinmeisterstraße ein, und als dann Kultursenator Roloff-Momin anläßlich des Kinder-und-Jugendbuch-Weltkongresses 1992 die zukünftige Förderung des Hauses fest zusagte, nahm das Team im April 1993 die Arbeit auf.
Eine Förderung blieb nach Einspruch des Finanzsenators Pieroth bislang jedoch aus, mit der Begründung, daß zuerst alle Eigenmittel ausgegeben sein müßten. Das wird im September der Fall sein, und eine verbindliche Zusage für die zukünftige Förderung des Hauses gibt es immer noch nicht.
720.000 Mark benötigt LesArt pro Jahr, um den Betrieb wie bisher aufrechtzuerhalten. Anfang nächster Woche wird der Senat den Haushaltsentwurf für 1995/96 beschließen. Wie soll ein neues Projekt in einem Etat Platz finden, in dem schon jeder einzelne der bestehenden Posten von drastischen Kürzungen bedroht ist? Nach der Einschätzung des Literaturreferenten des Kultursenats, Dietger Pforte, wird eine Förderung von LesArt wahrscheinlich nur über eine Erhöhung des Gesamtkulturetats möglich sein.
Am Dienstag fällt jedenfalls die Entscheidung, ob das einzige Kinderliteraturhaus in Deutschland in einem vergleichbaren Rahmen wie bisher überhaupt weiterarbeiten kann. Die momentane Ungewißheit macht die Planung für die nächste Zeit nahezu unmöglich: Es können keine festen Verträge mit MitarbeiterInnen gemacht werden, eine Ausstellung über die Darstellung des Dritten Reiches im Kinderbuch ist nicht zuverlässig vorzubereiten, und auch langfristige Projekte und Austauschprogramme (wie mit dem einzigen anderen europäischen Kinderliteraturhaus in Wien) werden erst einmal mit Fragezeichen versehen.
Ganz schließen wird das Kinderliteraturhaus zwar auch dann nicht, wenn sich alle Zusagen des Senats tatsächlich als Schall und Rauch erweisen sollten. Aber dann wird Sabine Mähne einen Großteil ihrer Arbeitskapazität wohl darauf verwenden müssen, langwierige Förderungsanträge für Einzelprojekte bei den verschiedenen Institutionen einzureichen.
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