: Film lesen
Warum das Interesse an postmodernen Zerreißungen und fetischisierten Körperteilen? In Georg Seeßlens ausschweifendem David-Lynch-Buch bleiben Filme, wie sie sind — übercodiert. ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Die Zeit, in der Filmzeitschriften nicht nur vom unbeugsamen Kreis der epd-Film, Film und Fernsehen und Splatting Image-AbonnentInnen gelesen wurden, in der Filmkritiker und Regisseure ein gemeinsames, antikapitalistisches Projekt verfolgten, ist längst vorbei. Wie der deutsche Film, so ist auch die Kritik in der Krise. Das liegt nicht unbedingt daran, daß heutzutage nur noch Dummköpfe über Filme schreiben, es hat vor allem damit zu tun, daß der Warencharakter sowohl von Film als auch von Texten über Filme immer deutlicher geworden ist, daß die gesellschaftliche Bedeutung von Film abgenommen hat und daß verbindliche Kriterien zur Beurteilung von Filmen so fragwürdig geworden sind wie althergebrachte politische Feindbilder.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, mit dieser Krise umzugehen: Manche schreiben weiter so, als hätte sich die Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren nicht verändert; andere kämpfen gegen böse Bilder; wieder andere haben das Feld ihres Interesses erweitert und schreiben, wie Georg Seeßlen, längst nicht mehr nur über den guten Film, sondern auch an „trivialen“ Mediendingen entlang.
Der 46jährige gilt spätestens seit seinen Klassikern „Kino der Angst“ und „Der pornografische Film“ als einer der avanciertesten deutschen Medientheoretiker. Er ist einer der wenigen, die dem „Trivialen“ nicht weniger Aufmerksamkeit schenken als der „Kunst“. Das arrogante Augenzwinkern des Kulturbeflissenen, der sich auch mal zum Banalen herabneigt, ist dem bärtigen Jonathan-Richman- Fan fremd. Sein Buch über „David Lynch und seine Filme“ (Schüren Verlag 1994) ist ein passagenweise begeisterndes Beispiel einer zeitgemäßen Art, über Film zu schreiben.
Es „wurde nicht geschrieben“, sagt Seeßlen einleitend, „um die Filme von David Lynch besser zu verstehen (was immer das sein mag: verstehen); vielmehr werden sie selbst ein wenig als Mittel nutzbar gemacht, unsere Mythen-(und also Wirklichkeits-)Produktion in einem bestimmten Stadium von Zerfall und Konstruktion zu durchmessen. Was als Assoziationsmaterial geboten wird, sollte nicht als ,Interpretation‘ mißverstanden werden; es geht vielmehr darum, Anschluß für die Diskurse zu finden, was ein Bewußtsein der Bilder sein könnte.“
Was so bescheiden zunächst klingt, ist unglaublich kompliziert. Denn hinter dem vorgeblichen Verzicht auf Interpretation oder dem vollmundigen „Against Interpretation“ (so heißt ein Kapitel) steht eigentlich die unendliche Analyse; die Interpretation als Prozeß, der nie (und sicher nicht nach zweihundert Seiten) zu einem Ende kommen wird. Seeßlen betreibt ein „Close reading“ der Filme David Lynchs, das ihn paradoxerweise zu einer offenen Form führt, in der sich schließlich prinzipiell die ganze westliche Welt und Kulturgeschichte als Anknüpfungstext anbietet. Im Prozeß des Am-Film-Entlangschreibens und -Assoziierens wiederholt er das, was er gleichzeitig als Struktur der Lynch-Filme ausgemacht hat. Und die Filme wiederholen die Welt in einem produktiven und dynamischen Prozeß.
Bei seiner Methode stellt sich ein vielleicht grundsätzliches Problem. Denn anders als der Kinobesucher, der den Film als Ganzes in der Zeit wahrnimmt, schaut sich der Analytiker den Film am Videorecorder an, stoppt, spult zurück, die eine oder andere Szene wird er in Zeitlupe laufen lassen; bewegte Bilder läßt er gefrieren, um sie wie ein Bild zu betrachten. Kurz: Er betrachtet den Film wie ein Buch und ignoriert leicht dabei, daß der Film eben weder „Familien-“ noch ein sonstiger „Roman“ ist.
Seeßlen „liest“ das Werk von David Lynch als „eine magische Autobiographie“ und zugleich als einen Weg, den das unglückliche Bewußtsein der Moderne geht, ohne je Aussicht zu haben, zum absoluten Wissen zu kommen. Dieser Weg führt den „nicht zu Ende geborenen Sohn“, der sich in „Elephant Man“ „dem totalen Opfer“ anheimgibt, durch verschiedene Stationen des Scheiterns: in „Blue Velvet“ dringt er ins inzestuöse Drama von „Sexualität, Familie und Geburt“ ein, ohne die ersehnte „Ganzheit“ zu finden; in „Twin Peaks“ scheitert er in der Figur des ,guten‘ Agent Cooper „oberflächlich gesehen an einem perfekten System des Bösen, genauer aber am Problem der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung“. Und schließlich kann er in „Wild at Heart“ seine Erlösung in der Liebe nur spielen.
Die Filme legitimieren es durchaus, von einem einzelnen Universum (Seeßlen nennt es „Lynchville“) zu sprechen, in dem Männer und Frauen und Landschaften bestimmte Entwicklungen durchmachen und bestimmte Liebes-, Identitäts-, ganz pathetisch auch Lebenskonzepte entworfen und verworfen werden. Zahllos sind die Beispiele, in denen sie aufeinander Bezug nehmen; in denen Leitmotive, Themen und Helden meist leicht verändert oder verschoben wiederkehren.
„Lynchville“ ist „eine geschlossene Welt, in der alles ein Übermaß an Bedeutung trägt“, die perfekte Imitation der (amerikanischen) Provinz in der Provinz, die Lynch wie ein „verängstigtes Kind“ konstruiert, „das über die Welt noch kein festes Erklärungsmuster gelegt hat, um seine Angst zu bannen“. Es ist eine „mythische Landschaft im Zustand des Zerfalls. Einmal mag da alles am rechten Ort gewesen sein, die Natur und die Architektur, sie mögen eine übergeordnete, schöne Ordnung gefunden haben, aber das ist lange her in Lynchville.“ Hier werden zwar „all die Fragen gestellt, die sich in jeder anderen Welt auch stellen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wo ist die Grenze zwischen Ich und Welt? Was ist ,Frau‘, und was ist ,Mann‘?“ Doch Lynchville ist kein traditioneller Ort der Erfahrung, sondern das postmoderne Bild einer postmodernen Welt, die den Menschen „nicht mehr zum Subjekt“ hat.
Das hat durchaus historische Gründe: „Die Entmachtung des Vaters“ (in den 60er Jahren – d.A.) hatte dazu geführt, daß Familie „gewissermaßen zu einer Form ohne Inhalt“ wurde, in der „weder Herrschaft noch Revolte“ noch ein „sinnproduzierendes Forum“ besaßen. „Wo sich der Körper nicht mehr in der Welt bewähren konnte (in der Arbeit zum Beispiel, im historischen Opfer), wo der Geist mit den konkurrierenden Systemen von Wissen und Sinn nicht mehr Schritt halten und wo die Seele nicht mehr an ihre Erlösung glauben konnte“, verlor „die Herrschaft des Geistes über den Körper“ ihren Sinn.
Je mehr dieser Körper „in der Gesellschaft und in der Produktion entwertet wurde, desto manischer wurde er betrachtet, als Organ der Lust, als Medium der unglaublichen, aber leeren Leistung. Schließlich schienen Körper, Geist und Seele geradezu voneinander entflochten, sie existierten wie nebeneinander nach Befriedigung schreiende Wesen [...] Immerhin entwickelte sich aus diesem Zerfall eine ungeheuerliche und panische Sehnsucht nach Ganzheit; und diese Ganzheit wurde die Superware auf dem Sinnmarkt.“
David Lynchs Filme reflektieren die amerikanische Version postmoderner Zerreißungen, die neben den Allgemeinem – der Verlagerung „von der Warenproduktion auf die Sinnproduktion (dazu: vom Gebrauchswert auf den Tauschwert, von der Funktion aufs Design, von der Arbeit in die Freizeit etc.)“ – noch durch ganz spezifische Ereignisse gekennzeichnet ist. Ein Kapitel handelt von der Ermordung Kennedys, die Seeßlen als „Königsmord“ und letztlich „abgelehntes Opfer“ interpretiert.
Das perverse Interesse, daß sich in der Postmoderne immer mehr auf den eigenen oder andere Körper konzentriert, der problematisiert oder zum Ort authentischer Wahrheit stilisiert wird, wiederholt sich in Lynchs Filmen. Einzelne Körperteile werden fetischisiert, etwa die Vagina in „Blue Velvet“. Zuweilen werden auch Gebäude nach der Topografie der Körpers gestaltet – das Zimmer, in dem der Elefantenmensch lebt, ist der Kopf.
Seeßlen gelingt es, den Filmen Lynchs immer neue Ebenen zu geben, sie mal psychoanalytisch, mal alltagsmythologisch zu enträtseln, um sie danach immer mehr zu verrätseln. Er liefert auch präzise Charakteristiken einer postmodernen Ästhetik, die nicht nur für Filme gelten. Sie wende einen scheinbar „einfachen Trick“ an: „Er besteht in der Spiegelung einer Aussage in den Zeichen vorhandener Sinnsysteme. Eine einfache Aussage – sagen wir: zwei Menschen lieben einander – wird vermittelt durch das Spiel zweier Menschen mit Rollen von Liebenden, wie man sie kennt. In diesem Spiel steckt beides, die reine, archaische Aussage (die in der Moderne negiert worden war) und die kritische Reflexion der verwendeten Zeichen für diese Aussage (in der sich die Moderne fortsetzen mag). Eine Szene wird also doppelt codiert, indem sie als Aussage und als Untersuchung der Sprache dieser Aussage aufgenommen werden kann. [...] Was die beiden Ebenen [...] verbinden kann, ist Ironie. Darin steckt sozusagen das gegenseitige ,Verzeihen‘ von Naivität (des Dargestellten) und Raffinesse (in der Darstellung).“
Der Reiz der Filme von David Lynch besteht aus solcherlei Übercodierungen, unendlichen Verdoppelungen; aus einem Mehrwert und Luxus an bedeutenden Zeichen, deren letzte Bedeutungen wir nicht finden. Die Suche danach – Seeßlens Buch ist ein schöner Wegführer – macht jedoch unglaublich viel Spaß. Die Welt, von der Lynch spricht und die vielleicht auch unsere ist, können wir nie vollständig rekonstruieren. Sie ist nicht ganz. So ist auch „nicht die Geschlossenheit einer Erzählung das Ziel, sondern die Erzeugung einer Stimmung, in der die Kontraste erst wirklich zur Geltung kommen können“: ein irritierendes Nebeneinander von „Kitsch und Kunst, Realismus und Surrealismus“. Georg Seeßlens Buch sei nicht nur allen Lynchfreunden ans Herz gelegt; zumal es auch einen hübschen Reim enthält: „Verdoppelung und Reduktion/ sind (die) Medien der Transgression.“
Georg Seeßlen: „David Lynch und seine Filme“; etwa 200 Seiten, Schüren Verlag 1994
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen