Innerlichkeit statt Selbstentfremdung: Macht Stricken glücklich?

Kann Stricken oder Marmelade kochen helfen, eine neue Innerlichkeit zu erreichen? Nützt das Streben nach Ausgleich überhaupt, oder ist es spießig?

Früher biederes Hausfrauenhandwerk, heute Streetart: Ein umstricktes Fahrrad in New York. Bild: flickr/Pank Seelen (CC.BY.SA)

Seit Neuestem bringe ich unsere Gemüsereste immer zu meiner Nachbarin: Aus den Blättern von Kohlrabis, Sellerieschalen, sogar Spinatstängeln presst sie grüne Smoothies. Die gesunden Säfte selbst herzustellen, mache sie glücklich, sagt sie.

Meine Nachbarin macht auch ihren Lippenstift selbst, bäckt Brot, näht Kleider für ihre Kinder. Zwischendrin geht sie zum Qui Gong und singt, um Körper und Seele in Einklang zu bringen.

Und sie ist keine Ausnahme, wie ein Blick auf die aktuellen Bestsellerlisten zeigt: Im Freizeitbereich und bei den Ratgebern stehen Bücher über veganes Kochen, selbstgemachte Smoothies und Entspannungstechniken ganz oben.

Verkaufsschlager Lebenshilfe

Auch an den Kiosken vermehren sich Zeitschriften, die das einfache, bescheidene  Leben, die guten, selbstgemachten Dinge, die innere Balance preisen. Sie heißen „Flow“, „The Weekender“ oder „My Harmony“. Sogar im ZEIT Magazin können LeserInnen von der Rubrik „Die Wundertüte" lernen, wie man Kaffee selber röstet oder einen Schal strickt.

Jahrgang 1974, studierte in Passau, Leipzig, Aberdeen und Berlin Anglistik, Hispanistik und Kulturjournalismus. Seit 2005 schreibt sie für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen, seit 2009 ist sie Redakteurin im Berlinteil. Auf dem taz.lab 2015 wird sie erkunden, wie innerlich die neue Innerlichkeit wirklich ist und was es dabei mit dem Haupt- und Nebenwidersprüchen auf sich hat.

 

Studien zufolge begeistert sich besonders die gut gebildete urbane Mittelschicht für das einfache Leben im Einklang mit der Natur und sich selbst. Und die Jugend sehnt sich, auch das belegen Zahlen, wieder nach der Kleinfamilie, dem eigenen Häuschen.

Während die Eltern nach Jahren der selbstentfremdeten Medienarbeit in der Küche zu sich kommen, strebt der Nachwuchs die Einbauküche mit Smoothies-Blender gleich von vornherein an. Was bedeutet dieser Trend? Ein Rückzug vor den Zumutungen der globalisierten Welt in ein zuckrig-infantiles Eiapopeia-Land?

Ergeben wir uns einer zeitgemäßen Variante der neobürgerlichen Innerlichkeit, wie sie in Spießerhaushalten der fünfziger Jahre zu Hause war: Jeder Mann ein tüchtiger Heimwerker, jede Frau eine patente Marmeladenköchin?

Ein Schlag in die Fresse der globalen Warenindustrie

Vielleicht ist es aber auch vorschnell, SelbermacherInnen und HandwerkerInnen der Weltflucht zu bezichtigen. Marmeladen aus dem eigenen Garten einzukochen, statt im Supermarkt zu kaufen, kann auch ein politisches Statement sein.

Stricken kann man/frau auch mit radikal feministischem Anspruch. Und ist es etwa nicht gesellschaftskritisch, aktiv an einem entschleunigten Leben mit gesunder Work-Life-Balance zu arbeiten, statt sich im Hamsterrad aus Leistungsstreben und Konsum aufzureiben?

So gesehen, sind die Smoothies-Macherinnen und „Flow“-Leser von heute Wiedergänger der konsumkritischen do-it-yourself-Bewegung der Siebziger Jahre-Alternativkultur: Selbermachen als Selbstermächtigung.

Jedes selbstgebaute Möbelstück aus Recyclingmaterial, jeder Schmuck aus dem 3D-Drucker ein Schlag in die Fresse der globalen Warenindustrie! Ob überhaupt und wie das gehen kann, darüber wird auf dem taz.lab 2015 dringend zu diskutieren sein.

NINA APIN

Sie möchten zu diesem Artikel etwas beitragen?

Schreiben Sie an tazlab@taz.de