: "Wenn ihr geht, ist es genauso schön"
■ Der Reichstagsspezialist Mike Cullen, ursprünglicher Ideengeber für dessen Verhüllung, über Kunst, Politik und Streß
Michael S. Cullen ist in New York City geboren, studierte Slawistik, Philosophie, Musik und Geschichte. Cullen, der seit 1962 in Deutschland lebt, recherchiert seit 1977 zum Reichstagsgebäude und veröffentlichte hierzu zahlreiche Schriften. 1993 wurde er in die Expertenkommission zum Umbauwettbewerb des Reichstages berufen. An der Durchsetzung des „Christo-Projektes“ war er maßgeblich beteiligt. Termingerecht zur Reichstagsverhüllung liefert Cullen nun sein neuestes Buch zum Reichstag.
taz: Erstaunlicherweise stammt die Idee, den Reichstag zu verhüllen, nicht von Christo, dem Künstler, sondern von einem Bauhistoriker namens Mike Cullen. Wie ist es damals, vor nun immerhin 23 Jahren, dazu gekommen?
Michael S. Cullen: Ich wollte eine Diskussion in Gang bringen, und das ist sicherlich gelungen. Damals gab es drei wichtige Aspekte. Einmal die Eröffnung der Reichstagsausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ im März 1971, hundert Jahre nach der ersten Reichstagssitzung. Die Diskussion ging seinerzeit dahin, zu sagen, wir lassen den Reichstag in einer Art Koma, er soll für sonstige Zwecke nicht zu gebrauchen sein. Zweitens gab es die Diskussion „Kunst und Politik“: Wie können sich Künstler stärker in die politische Arena einbringen; und drittens die Eroberung des Straßenraumes für die freien Künste.
Ich muß dazu aber sagen, Christo und Jeanne-Claude haben auf meinen Vorschlag sehr bald reagiert, sie haben gesagt: Wir möchten das gerne machen, besorgen Sie uns die Genehmigung! Ich kann mich nicht daran erinnern, daß Christo mich jemals gefragt hat, warum willst du das machen, und ich kann mich auch nicht erinnern, daß ich Christo jemals gefragt habe: Warum willst du das machen? Das war für uns einfach so selbstverständlich, daß uns die Frage nach einem Warum total entgangen war.
Spitze Zungen sagen, die Objekte der Verhüllung mögen ja wechseln, doch was bleibt, ist Christos Verhüllungsneurose an sich. Ist die Verhüllung wirklich mehr als ein hübsches Spektakel? Beliebig interpretierbar und ohne politische Intentionen?
Politische Intentionen muß man selber einbringen. Christo hat sicher welche, aber er hält sich meistens an das Wort „Bilde Künstler, rede nicht“, das der große Geheimrat aus Weimar einst geprägt hat. Zweitens: Das mit einer Neurose abzutun, scheint mir sehr billig. Dann wäre eine Unzahl von Menschen auf der Welt neurotisch, indem sie zum Beispiel die Christusfigur in der Karwoche verhüllen, indem sie Frauen verhüllen, verkleiden. Wenn das alles Neurose sein soll, dann weiß ich nicht. Im übrigen hat Christo vieles getan, was nicht mit Verhüllen, Verkleiden oder Verpacken zu tun hat. Das ist nur billige Kritik.
Stichwort politisches Bewußtsein. Politiker werden im Alltag häufig nicht als gewählte Repräsentanten, sondern als „die da oben“ ohne Verbindung nach unten erlebt. Warum wurde die Verhüllung nicht dazu genützt, Begegnungen zwischen Repräsentanten und angeblich Repräsentierten zu ermöglichen?
Erstens ist das eine Frage, die mehr an den Bundestag geht als an Christo. Wenn der Bundestag das will – und ich weiß, daß einige Mitglieder des Bundestages das wollen – werden sie sich nach Berlin begeben und mit den Leuten sprechen. Es wird einen Informationsbereich des Bundestages am verhüllten Reichstag geben, wo Bürgerinnen und Bürger mit Abgeordneten sprechen können, sofern die sich zur Verfügung stellen. Ich finde das eine sehr gute Idee. Vielleicht werden mehr Abgeordnete auf die Idee kommen, sich mit Bürgern zu treffen.
Hätte denn eine explizite Verbindung des Projektes mit konkreten Forderungen nach mehr Demokratie und Bürgernähe die Durchsetzung des Projektes erschwert?
Also, das zu sehr mit der Tagespolitik oder der Parlamentsreform, die jetzt läuft, zu verknüpfen, hätte wahrscheinlich dem künstlerischen Aspekt des Werkes mehr oder weniger geschadet. Kunst lebt von der Möglichkeit, sie unterschiedlich zu interpretieren. Wenn allerdings die Menschen auf neue Gedanken kommen, wie etwa Verkleinerung des Bundestages, Neuregelung der Geschäftsordnung, damit diese festgefahrene Redeordnung etwas aufgelockert wird und die Debatten lebendiger werden – all das wäre ein sehr positiver Nebeneffekt.
Wie waren denn die Reaktionen des Kanzlers zur Verwandlung des Reichstages in ein Kunstwerk?
Besonders stark waren natürlich die Worte von 1985, als er äußerte, solange er Bundeskanzler ist, wird das Reichstagsgebäude nicht verhüllt. „Also nicht mit mir und sicherlich nur gegen mich.“ Das hat er wortwörtlich zu einem Fernsehreporter gesagt.
Wie würden Sie Christo und sein Verhältnis zu seiner Arbeit charakterisieren?
Christo – und Jean Claude: Sie muß man einfach hinzufügen. Es ist uns allen in den letzten Wochen und Monaten wohl bewußter geworden, wie stark ihre Rolle ist. Ich habe sie beide immer gemeinsam erlebt, Christo wurde zu einer Chiffre für beide. Sie sind intensive, arbeitsame Menschen, ungeduldig mit sich selbst und anderen Menschen, geduldig in langfristiger Sicht der Dinge. Wenn sie da sind, habe ich wenig Schlaf, ich kann nichts tun als mit ihnen reden, sprechen, arbeiten. Sie sind offenbar Menschen, die ohne viel Schlaf auskommen können. Sie leben nur für ihre Ideen und ihre Umsetzung. Als ich mal alle Flügel habe hängen lassen wollen oder müssen, haben sie mich aufgerichtet und gesagt, wir müssen weiter, es gibt keinen Schlaf, bis dieses oder jenes getan ist. Das ist sehr anstrengend, und deswegen mein Satz: „Wenn ihr kommt, ist es wunderbar, aber wenn ihr geht, ist es genauso schön.“ Das akzeptieren sie beide mit großem Humor. Sie wissen, wie anstrengend sie sind. Aber ohne diesen Einsatz würde es nicht gehen. Interview: Johannes Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen