Integration Behinderter gefordert

■ Verfassungsgericht stoppt die Überweisung einer querschnittsgelähmten Schülerin auf eine Sonderschule

Hannover (taz) – Das Bundesverfassungsgericht hat sich für die schulische Integration von behinderten und nichtbehinderten Kindern eingesetzt. Nach Ansicht der Karlsruher Richter können behinderte Kinder nicht per se und gegen den Willen ihrer Eltern an eine Sonderschule verwiesen werden. Der erste Karlsruher Senat hob mit seinem Spruch gestern eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg auf. Dieses hatte die Überweisung einer zehnjährigen, querschnittgelähmten Göttinger Schülerin von der Regelschule auf eine Sonderschule als rechtmäßig eingestuft. In ihrer Entscheidung beriefen sich die Karlsruher Richter erstmals auf die 1994 ins Grundgesetz aufgenommene Zusicherung, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf.

Aus diesem Grundsatz leiteten die Richter eine „erhöhte Begründungspflicht“ bei Sonderschulüberweisungen behinderter Kinder ab. Das Oberverwaltungsgericht habe nicht dargelegt, warum eine sonderpädagogische Förderung der Schülerin an der Göttinger Gesamtschule nicht möglich sei, die sie zuvor besucht hatte. Zugleich habe das Lüneburger Gericht nicht ausgeführt, warum die Schülerin nicht in eine neugeschaffene Integrationsklasse an der Gesamtschule aufgenommen werden könne. Implizit werfen die Karlsruher Richter ihren Lüneburger Kollegen auch mangelndes Bewußtsein für die Rechte Behinderter vor: „Schließlich“, heißt es in ihrem Urteil, ließe die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts „nicht das Bewußtsein erkennen“, daß das Interesse der Schülerin, „wegen ihrer Behinderung nicht benachteiligt zu werden, verfassungsrechtlich geschützt ist“.

Das Bundesverfassungsgericht stellte außerdem fest, daß pauschale Hinweise auf die „begrenzten organisatorischen und personellen Mittel“ der allgemeinbildenden Schulen nicht ausreichen, um gegen den Willen der Eltern eine Überweisung von Behinderten an eine Sonderschule durchzusetzen. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte lapidar festgestellt, daß eine besondere Betreuung der querschnittgelähmten Schülerin an der bisher von ihr besuchten Gesamtschule „organisationsbedingt“ nicht möglich sei.

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg muß nun erneut über den weiteren Schulweg der Fünftkläßlerin aus Göttingen entscheiden. In erster Instanz hatte das Verwaltungsgericht Göttingen den Eltern des querschnittgelähmten Mädchens aus formellen Gründen Recht gegeben. Nach Ansicht des Göttinger Gerichts hatte die falsche Schulbehörde die Sonderschulüberweisung angeordnet. Dies sah das Lüneburger Oberverwaltungsgericht anders, mit den Gründen für die zwangsweise Umschulung setzte es sich allerdings kaum auseinander. Jürgen Voges