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Die etwas andere Sicht

35 Jahre Mauerbau: Das Projekt „Gleimstraße“ hat Geschichten von Ostberlinern zusammengetragen, die den Mauerbau natürlich anders erlebten als die Anwohner auf der Westseite der Straße  ■ von Kathi Seefeld

Siegfried Kamenz hatte kurz und tief Luft geholt, Gas gegeben, und dann war er drüben, im Osten. „In dem Moment habe ich den Mauerfall irgendwie erst so richtig begriffen“, sagt der Weddinger heute und schwärmt nicht von 1989, sondern vom November 94, als er wieder durch den Gleimtunnel konnte: „So wie früher mit dem Rad“, auf kürzestem Wege von der Swinemünder Straße rüber zur Schönhauser, vom Wedding nach Prenzlauer Berg, einfach nur die Gleimstraße lang. Daß da AnwohnerInnen aus dem Osten protestierten, die nach den Jahren relativer Ruhe im Schatten der Mauer keinen Lärm von Autokolonnen wollten, verstand Siegfried Kamenz nicht. „Die Gleimstraße gehört doch zusammen“, sagte er.

Die Gleimstraße. Keine große oder attraktive Straße, eine wichtige war sie allemal, nicht nur für Kamenz, den sie „kurz nach dem Krieg“ gelegentlich ins Kino „Colosseum“ führte oder ins „Venezia“, eine Eckkneipe, deren Wirtin 1946 in Verruf gekommen war, weil sie Essen mit untergewichtiger Wurst angeboten hatte. 1961 aus dem Urlaub heimkehrend, fand der Weddinger seine Lieblingsstraße zweigeteilt, der Gleimtunnel war dicht, Colosseum und Kneipen im Osten waren für ihn daraufhin „schon aus Prinzip“ gestorben.

Aus Ostberliner Sicht sah manches anders aus. Wie, das haben unter anderem zwei Jahre lang MitarbeiterInnen des Geschichtsprojekts „Gleimstraße“, eines Vorhabens der Museen Wedding, Prenzlauer Berg und des Trägers Prokultura, in Interviews mit AnwohnerInnen der Gleimstraße und aus Archivmaterialien in Erfahrung gebracht und zusammengetragen. Der Mauerbau kam für so manchen Prenzlberger nicht von ungefähr. Der Status der Sektorengrenze als offene Grenze hatte nach dem Krieg „ja allerlei beim Hin und Her“ ermöglicht, erzählten Gleimstraßenbewohner. Und so schlugen denn im „demokratischen Sektor“ bereits in den fünfziger Jahren manches Mal die Alarmglocken: Beispielsweise als im Prenzlauer Berg ein Täter gefaßt wurde, der in 43 Kneipen die Bleirohre entwendet hatte: „Er ging mit einer Aktentasche in die Kneipe, bestellte einen Likör und ein Malzbier, trank den Likör sofort, das Bier halb, ging mit der Aktentasche aufs Klo, schraubte die Bleirohre ab und verkaufte sie in West-Berlin“, heißt es in der Chronik der Straße über den 17. Januar 1952.

Im Dezember des Jahres wird im Zusammenhang mit der Ermordung des 19jährigen Unterwachtmeisters Helmut Just die Gaststätte Heidorn, Gleimstraße 61, geschlossen, in der „größtenteils asoziale und kriminelle Elemente, unter ihnen auch nachweislich Mitglieder der sogenannten KGU und BDJ (Bund Deutscher Juristen)“, verkehrt haben sollen. Im Mai 1957 verläßt der Hauswirt der Gleimstraße 41 „illegal den demokratischen Sektor von Berlin“.

Der Vorfall, so Annett Gröschner vom Geschichtsprojekt, wurde in der Zeitung Unser Prenzlauer Berg propagandistisch ausgewertet. „Gefunden wurden D-Mark, Zigaretten, Lebensmittel. Mieter hatten die Möglichkeit, die Wohnung zu besichtigen.“ Im Jahr 1958 verließen 0,24 Prozent der Bevölkerung von Prenzlauer Berg den Osten, mehr als in jedem anderen Bezirk. „Es sind vor allem Ärzte, Lehrer, Studenten und medizinisch-technisches Personal“, ist in den Archivunterlagen zu lesen.

Über den 13. August 1961 selbst sprechen GleimstraßenbewohnerInnen, die ihn miterlebten, heute nur ungern. Kaum jemand erinnert sich, wie „der östliche Ausgang des Gleimtunnels durch die Erhöhung der vorhandene Mauer auf insgesamt 2,60 m sowie durch das Spannen von Stacheldraht von der Oberkante der Mauer bis an den Brückenträger restlos verschlossen“ wurde. Ebenso wenig spricht man über die durchaus dagewesenen Proteste. Lediglich die Geschichte mit dem Fluchttunnel durch die Kanalisation, der noch vier Wochen nach dem Mauerbau genutzt wurde, wird auch heute noch gern weitergetragen.

In den Gesprächsprotokollen des Geschichtsprojekts berichtet ein Vater zweier Töchter über die Probleme, die die Kinder, als sie über 14 waren, damit hatten, im Sperrgebiet zu leben. Freundinnen, Bekannte mußten für Besuche Passierscheine beantragen. Spontane Partys fanden nicht statt. „Die Tochter heiratete damals den ersten, den sie mit nach Hause bringen konnte“, erzählt Annett Gröschner.

Vom 2. bis 10. Oktober 1979 wurde wegen des 30. Jahrestages der DDR eine Ausgangssperre verhängt, nach Fluchtversuchen wurden regelmäßig die Kontrollen verschärft, unmittelbar an der Sichtfront zur Mauer zogen Polizeibeamte oder Stasimitarbeiter und ihre Familien in frei werdende Wohnungen. Dennoch herrschte auch in der Gleimstraße Alltag. Ein junger Mann schilderte, wie es ihm Ende der siebziger Jahre gelang, an den Wachpolizisten vorbei in die Wohnung einer Bekannten einzudringen, um deren Habseligkeiten vor ihrem Exehemann, der die Wohnung nach der Scheidung behalten durfte, in Sicherheit zu bringen. „Vergangene Zeiten“, sagt Manne Römer, Kiezaktivist, der Mitte der achtziger Jahre mit seinen fünf Kindern eine Wohnung im Sperrgebiet auf Prenzelberger Seite erhielt. „Damals war ich froh, eine große Wohnung für mich und meine Familie zu bekommen. Dafür nahm man auch mal Ausweiskontrollen in Kauf.“

Irgendwie habe man jetzt neue Sorgen, so Römer. Die Boxsporthalle am Falkplatz, dort, wo sich einst die sogenannten Hundeauslaufanlagen befanden, wirft ihre Schatten voraus. Besonders Familien verlassen den Kiez, Gelder für geplante Kinderprojekte wurden gestrichen. Luxussanierungen vertreiben manchen Augenzeugen der vergangenen Zeit.

Eine Straßenausstellung über die wechselvolle Geschichte der Gleimstraße hätte heute, so Annett Gröschner, eröffnet werden sollen. „Leider fehlte den Bezirken und dem Senat das Geld dazu.“ Am 15. September läuft darüber hinaus die ABM-Regelung für das Geschichtsprojekt Gleimstraße aus. Und an Geld für die Sanierung des Tunnels fehlt es auch.

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