: Wir bleiben auf der Veddel!
Die „Free Kids“ mischen sich immer mehr in Politik und Gesellschaft ein: SchülerInnen und Studierende haben die Veddel besetzt / Siebter Teil der taz-Serie über die schöne neue Weltstadt Hamburg ■ Von Ulrike Winkelmann
atthias gibt noch einen Schuß Wasser zur Kunststoff-Beton-Mixtur in die Wanne und gießt den selbsterfundenen, superschnelltrocknenden Schlabbermix über Kathrins Füße. „Finito!“ Kathrin strahlt. Sie prosten sich mit dem Guarana-Himbeersekt-Cocktail zu, bevor Matthias sich an die Kette legt.
Die Sonne scheint, die beiden haben einen glorreichen Ausblick über die Dächer der letzten Häuserzeile auf der Veddel. Die Räumdienste können kommen. Entlang der ehemaligen S-Bahn-Linie sitzen hunderte von Elf- bis Achtzehnjährigen in und auf den Häusern: angekettet, einbetoniert, festgeschweißt. Bunte Tücher und Fahnen wehen über den besprühten Häusern. Um jedes einzelne ist ein Graben gezogen; nur mit Schwingseilen ist an die Türen zu gelangen.
Seitdem das Freie Schulen Plenum sich in die Auseinandersetzungen um die Hamburger Hafenerweiterung eingeklinkt hat, läuft nichts mehr, wie die Hafenauf-sichtsbehörde – wie der frühere Senat jetzt heißt – es geplant hat. Als es das Rathaus noch gab, hatte die schwarz-rote Koalition dort Ende des vergangenen Jahrtausends beschlossen, Altenwerder zwar in Ruhe zu lassen, statt dessen aber die Veddel für die Errichtung weiterer Container-Terminals räumen zu lassen. Die Veddeler Bevölkerung begriff zu spät, protestierte zu schwach und ließ sich nach Allermöhe VII umsiedeln.
Während sich die gesamte in die Jahre gekommene autonome Schickeria in Eimsbüttel und St. Pauli nur noch um die – zugegeben: gelungene – Selbstverwaltung ihrer Stadtteile kümmert, hat die Freie Schule Veddel Alarm geschlagen und das Freie Schulen Plenum sowie sämtliche Projektwerkstätten und autonome Kindergruppen mobilisiert. Alle zusammen gaben sie sich den Namen „Free Kids“, die darauf ohne Federlesens die Veddel besetzten.
Die Free Kids fordern, die Veddel dem Freie Schulen Plenum zur Verfügung zu stellen, um dort ein internationales Jugendkulturzentrum anzusiedeln. Und ein Tierheim mit mehreren Hektar Auslauf. Und einen Bauwagenplatz, und ein Schulungszentrum zur Straßenbauverhinderung, und und und.
Musik klingt über das Gelände, mehrere Sound-Systems sorgen für weitgehend angemessene Beschallung, obwohl sich der uralte Ideologiestreit um die Stilrichtung natürlich an diesem Wochenende wie immer nicht klären ließ. Die Punk-Fraktion beharrt nach wie vor auf sogenannten Live-Auftritten, einer Tradition aus dem zwanzigsten Jahrhundert, aber dieser Punkt wird auf den Abend-Plena regelmäßig nachrangig behandelt. Auch wenn niemand abstreitet, daß die Musikfrage über kurz oder lang einer konzeptionellen Lösung bedarf.
Wichtiger sind natürlich Fragen wie Recht und Justiz: Obwohl die Free Kids den großen Vorteil der eingeschränkten Strafmündigkeit genießen, könnten die Gerichte trotzdem versuchen, ihnen etwas anzuhängen – womöglich Landfriedensbruch? Oder die Frage nach der Öffentlichkeitsarbeit: Sollte überhaupt mit den Langweilern von der Presse geredet werden, oder ist das Internet als ausschließliches Forum für ihre Stellungnahmen nicht der bessere Weg?
Stets virulent ist auch die Frage geblieben, ob man sich nicht auch um die „Erwachsenen“ kümmern sollte. Nahezu alle Kinder und Jugendlichen, die sich für die Freien Schulen entscheiden, haben weitgehend verständnisvolle Eltern, die sich manchmal allerdings ein wenig über Vernachlässigung beklagen. Aber auch Stimmen nach Mitspracherecht bei den Aktionen der Freien Schulen werden immer wieder laut. Die Mehrheit der Freien Schulen steht auf dem Standpunkt, daß Eltern nichts mehr zu sagen hätten, seitdem die Kinder nicht mehr wirtschaftlich von ihnen abhängig sind, was der mittlerweile für alle Menschen geltende Anspruch auf eine staatliche Grundversorgung gewährleistet. Eine romantische Minderheit plädiert dafür, daß man auf die Gefühle von Erwachsenen Rücksicht nehmen müsse und ihnen zumindest Gelegenheit geben sollte, ihre Meinung zur Politik der Freien Schulen zu äußern.
Die Freien Schulen, gegründet von Kindern, Jugendlichen und wenigen Studierenden, stehen für die Maxime, daß jeder Mensch Gelegenheit haben sollte, sich um wirklich wichtige Dinge wie die Organisation von Anti-Militarismus-Kongressen, Straßenblockaden und die Unterbringung von illegalisierten Flüchtlingen kümmern zu können.
Weil allen klar ist, daß es nützlich sein könnte, Wissen zu erwerben, das über die unmittelbare politische Anwendung hinausreicht, formieren sie sich zu Lektüre-Räten und Lerngruppen – zu allen möglichen Themen: Menschen, Tiere, Wirtschaft, Literatur und so weiter. Gruppen, die sich mit der Geschichte des Schulwesens befassen, fanden heraus, daß die inhaltlichen Überschneidungen mit dem sogenannten Lernstoff im zwanzigsten Jahrhundert groß waren. Dabei wissen alle, daß damals kaum ein Kind behauptet hätte, gern zu lernen.
Die Themen und Projekte reichen vom Erforschen des Sexualverhaltens von Hausmilben über die Herstellung eines optimalen Pizzateigs bis hin zur Erarbeitung globaler Lösungen für das Welternährungsproblem. Doch diese Projektarbeit gerät nicht selten in Konkurrenz zu den gerade anstehenden Besetzungen und Fahrradkonvois. Deshalb beschloß das Plenum, Lerngruppen und politische Aktionen zu verbinden.
So kam es auch, daß Matthias und Kathrin während die Räumdienste anrücken sich gegenseitig aus Hölderlins „Empedokles“ vorlesen, bis Kathrin sich vor Lachen kaum noch halten kann und nur ihre einbetonierten Füße gewährleisten, daß sie nicht über den Boden rollt. Für den diesjährigen Austausch mit den Kindergewerkschaften in Nicaragua haben beide eine Hölderlin-Werkschau geplant, die sie auf Spanisch, Deutsch und Englisch auf die Bühne bringen wollen; bislang aber finden sie den Stoff zu schwülstig, um dabei ernst bleiben zu können.
Oder vielleicht doch auf Selbstgeschriebenes zurückgreifen? Das können sie morgen entscheiden, denn jetzt rollen die schweren Fahrzeuge der von der Hafenaufsichtsbehörde angeheuerten Räumdienste über die Elbbrücken, und die Free Kids stimmen ihr Kriegsgeheul an. Diesmal dürften es die Besetzungs-Bereiniger verdammt schwer mit ihnen haben. So gut verbarrikadiert und gesichert wie heute waren die Free Kids noch nie.
In der Hafenaufsichtsbehörde und bei der Polizei wurde derweil intensiv über runde Tische nachgedacht, Ergebnisse waren bis Redaktionsschluß nicht bekannt.
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