piwik no script img

Belgien diskutiert die Todesstrafe

■ Nach den Leichenfunden und dem Skandal um Kinderhandel führt die Spur der Morde nach Osten

Brüssel (taz) – Belgien steht unter Schock. Mit jedem neuen Detail, das von der Entführung der mindestens sieben Mädchen bekannt wird, wächst das öffentliche Entsetzen. Nach der Festnahme des einschlägig vorbestraften Marc Dutroux hatten Polizeibeamte in seinem Haus zwei Mädchen, in einem Erdloch eingesperrt, gefunden. Zwei weitere Mädchen, die vor einem Jahr verschwunden waren, hatte Dutroux verhungern lassen und ihre Leichen im Garten vergraben.

Die Suche konzentriert sich jetzt auf drei weitere Mädchen im Alter von 17 bis 19 Jahren. Der 40jährige Dutroux soll sie an einen Menschenhändlerring in der Tschechischen Republik verkauft haben, der Kinderprostitution und Kinderpornographie betreibt.

Im ganzen Land entstanden Initiativen, die die erst am 13. Juni abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen wollen. Die Diskussion über die Behandlung von Sexualstraftätern zieht sich durch sämtliche Zeitungen. Die Vorwürfe richten sich vor allem auf den früheren Justizminister Melchior Wathelet, der heute Richter am Europäischen Gerichtshof ist. Wathelet hatte 1992 die vorzeitige Haftentlassung von Dutroux unterschrieben, der 1989 wegen Kindsmißbrauchs zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Wathelet verteidigt sich damit, daß die Haftverschonung von einem Sachverständigengremium mit Zweidrittelmehrheit vorgeschlagen worden war.

Die belgische Regierung will nun in den Gefängnissen sechs Therapiezentren einrichten, prüft aber gleichzeitig eine Verschärfung der Bedingungen für eine vorzeitige Haftentlassung. Sie will außerdem die europäische Zusammenarbeit der Polizei bei der Verfolgung von Menschenhändlerringen vorantreiben.

Die belgische Bevölkerung hat für solche Überlegungen derzeit wenig übrig. Die Gesichter der Kinder haben sich seit Monaten ins Bewußtsein der Belgier eingegraben. An allen Bahnhöfen, in öffentlichen Gebäuden und an Autobahnbrücken hatten die verzweifelten Eltern die Fotos aufgehängt. Die Stimmung ist aufgeheizt. Bei der Festnahme von Dutroux in Sars-la-Buissiere streiften ihm die Polizisten eine kugelsichere Weste über, um ihn vor der Lynchjustiz der Nachbarn zu schützen.

In den vergangenen Monaten hatte die Polizei die drei Häuser von Dutroux mehrfach durchsucht, aber nichts gefunden. Erst aufgrund von zwei Zeugenaussagen gelang es nun, das bestens getarnte Versteck in einem der Häuser aufzuspüren. Nun erinnern sich auch die Nachbarn, daß sie in der Vergangenheit Seltsames beobachtet hatten. Tagelang hatte ein junger Mann mit slawischem Akzent im Garten vier Meter tiefe Löcher ausgehoben. Selbst daß jemand ein Mädchen, das in eine Decke eingewickelt war, ins Haus schleppte, war den Nachbarn erst jetzt eine Meldung wert.

Inzwischen hat die Polizei drei weitere Verdächtige festgenommen. Sie geht davon aus, daß Dutroux noch mehr Komplizen hatte. Er selbst hatte beim Verhör ausgeplaudert, daß er vor einem Jahr für 2.500 Mark ein Mädchen bestellt hatte. Doch die Freunde hätten geliefert, bevor er den Käfig fertiggestellt hatte. Das hätte Probleme bereitet. Die beiden toten Mädchen, die er im Garten vergraben hatte, seien verhungert, als er wegen eines Einbruchs im Gefängnis saß. Die anderen habe er an einen tschechischen Freund weitergegeben.

Die tschechische Polizei bestätigte, daß es in ihrem Land Menschenhändlerringe gebe. Erst im Februar war ein 52jähriger Deutscher zu viereinhalb Jahren Haft wegen Kinderpornographie verurteilt worden. Hinweise auf Verbindungen zu den belgischen Entführungsfällen gibt es seit Ende 1995. Damals bat die belgische Polizei, auch in Tschechien nach zwei der vermißten Mädchen zu suchen. Es scheint, daß die Polizei immer nahe dran war, daß ihr aber der entscheidende Hinweis fehlte. Alois Berger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen