Der Vater sah wie gelähmt zu

■ Prozeß gegen Mutter, die ihre Tochter im Wahn tötete. Sie glaubte, die Fünfjährige sei von einem Dämon besessen, und wollte diesen durch Griff in den Hals austreiben

Eine kaputte Barbiepuppe war der Auslöser. Merkwürdige Tänze bei einem Kindergeburtstag im Nachbarhaus erhärteten den Verdacht. Als die fünfjährige Jessica dann auch noch allergisch auf die Farben Rot und Schwarz reagierte, stand für ihre Mutter fest: Das Kind war vom Bösen besessen. Um den Dämon auszutreiben, steckte sie der Tochter in der Nacht zum 20. Dezember 1995 mehrere Finger so tief in den Hals, daß das Kind dabei erstickte.

Die 35jährige Hausfrau und Tischlerin Hannelore S. muß sich seit gestern wegen Totschlags vor dem Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, daß sie im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte, weil sie an einer paranoiden Schizophrenie litt. „Es war eine Wahnsinnstat“, sagte die zierliche Frau gestern als Angeklagte vor Gericht immer wieder mit tränenerstickter Stimme. Hannelore S. befindet sich seither in der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Buch. Das große Leid und die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka haben tiefe Spuren in ihr Gesicht gegraben. Ihr Ehemann, mit dem sie noch ein zweieinhalbjähriges Mädchen hat, hält fest zu ihr: „Meine Frau wollte Jessica nie etwas zuleide tun“, sagte der 34jährige Ingenieur Martin S. gestern als Zeuge.

Mit tränenbelegter Stimme schilderte der Mann, daß er in jener Nacht zugegen war, als die Tat geschah. Er habe bis dahin jedoch nicht bemerkt gehabt, daß seine Frau seit kurzem an einer Schizophrenie litt. Deshalb habe er auch nicht die tödliche Gefahr erkannt. Martin S. war hinzugekommen, als seine Frau über Jessica auf dem Bett gekniet hatte. Erst habe er gedacht, Jessica habe etwas verschluckt, sagte der Mann. Dann habe seine Frau das Kind auf den Boden gezogen. Jetzt erst habe ihn das Gefühl beschlichen, daß etwas nicht stimme, daß seine Frau möglicherweise die Kontrolle über sich verloren habe. „Aber ich war wie gelähmt.“ Es sei wie in einem Alptraum gewesen: Man werde verfolgt, könne aber nicht wegrennen, weil einem die Beine versagten. „Meine Frau hat immer gerufen, ich soll Vertrauen zu ihr haben. Sie müsse unserer Tochter helfen. Sie wisse, was sie tue.“

Er habe versucht, an Jessica heranzukommen, so Martin S. weiter. Aber seine Frau habe das Kind so fest umklammert, daß er Jessica nicht habe losreißen können. Hannelore S. habe das Kind die meiste Zeit mit ihrem Körper verdeckt. „Der Schlüsselmoment war, als ich ihre Hand im Mund von Jessica gesehen habe“, sagte der Zeuge, mühsam gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend. „Ich habe alle Kraft gesammelt, meine Frau weggeschleudert, mir Jessica gegriffen und bin mit ihr nach oben gerannt.“ Jessica sei vollkommen naß gewesen. „Mein erster Gedanke war, sie muß baden. Dann habe ich gemerkt, daß sie überhaupt nicht mehr atmete.“

Die Familie S. wohnte zum Tatzeitpunkt in einem Einfamilienhaus in Johannisthal. Einige Tage vor der Tat habe ihm seine Frau von ihrer Vermutung erzählt, die Nachbarsfamilie gehöre einer Sekte an und habe Jessica verhext, sagte Martin S. Als Indizien habe sie den mit roher Gewalt abgebrochenen Kopf der Barbiepuppe gewertet und die plötzliche Farbenallergie der Tochter. Dann habe seine Frau damit begonnen, alle roten und schwarzen Hausgegenstände auszusortieren. Er selbst sei zu dieser Zeit sehr überarbeitet und ruhebedürftig gewesen. Darum habe er froh den Vorschlag seiner Frau aufgegriffen, den Sektenbeauftragten der evangelischen Kirche, Thomas Gandow, um Rat zu fragen. „Wir brauchten jemanden, mit dem wir reden konnten, wir waren vollkommen isoliert.“ Der Anruf bei Gandow erfolgte, wenige Stunden bevor es zu der Tat kam. „Aber der Pfarrer“, so die Angeklagte Hannelore S., „hat unser Problem nicht als so dringlich empfunden und uns einen Termin im Januar gegeben.“ Der Prozeß wird am Mittwoch fortgesetzt. Dann wird auch Gandow als Zeuge gehört. Plutonia Plarre