: Aus Angst vor Iraks Diktator
■ Die Männer, die gestern den sudanesischen Airbus nach London entführten, sollen hochgestellte Iraker gewesen sein, die Saddam Hussein entgehen wollten
Berlin (taz) – Sahib al-Hakim ist in einem Dilemma. „Wir lehnen Flugzeugentführungen strikt ab“, sagt der Londoner Vertreter der „Organisation für Menschenrechte“ im Irak. Doch: „Die Entführung ist eine der wenigen Gelegenheiten, um auf die Leiden der irakischen Bevölkerung unter der Diktatur Saddam Husseins hinzuweisen.“
Angesichts der gestrigen Entführung eines sudanesischen Airbusses mit 199 Menschen an Bord nach London sind sich die organisierten irakischen Oppositionellen in der britischen Hauptstadt einig: Das Mittel ist zu verurteilen, aber vermutlich hatten die Entführer kaum eine andere Wahl.
Die Entführung des Airbusses war gestern mittag ohne Blutvergießen auf dem Flughafen Stansted beendet worden. Die sechs bewaffneten Täter ließen schrittweise alle Geiseln frei. Dann ergaben sie sich und baten um politisches Asyl in Großbritannien. Laut der britischen Polizei diente der in London ansässige Iraker Sadiq Sadah als Vermittler. Er vertritt die Iraqi Citizen Association, die sich um irakische Flüchtlinge in Großbritannien kümert. Die Entführer hatten nach der Landung in London um den Kontakt zu ihm gebeten.
Der Airbus A-310 der Sudan Airways war gegen 4.30 Uhr Ortszeit in Stansted gelandet. Eigentlich hätte er nach Jordanien fliegen sollen. Die Entführer zwangen die Maschine jedoch zum Zwischenstopp auf Zypern und dann zum Weiterflug nach London. Die Passagiere stammten vor allem aus dem Irak, Jordanien und dem Sudan. Nach Informationen des schiitischen irakischen Oppositionsbündnisses „Oberster Rat für die islamische Revolution im Irak“ (Sairi) handelt es sich bei den Entführern um keine „normalen Iraker“, sondern um „Offiziere und Diplomaten“. Der Londoner Sairi- Vertreter Hamid al-Bajati vermutet, daß sie sich über den Umweg Sudan aus dem Irak abgesetzt haben, um einer derzeit wütenden Hinrichtungswelle zu entgehen.
Seit Wochen halten sich Gerüchte über Putschversuche und darauf folgende Säuberungsaktionen im Irak. Laut Informationen von irakischen Oppositionskreisen in Syrien und Jordanien sollen Anfang des Monats über 120 Offiziere der Eliteeinheit Republikanische Garden erschossen worden sein – wegen eines Umsturzversuchs gegen Saddam Hussein. Die Hinrichtungen sollen von dessen ältestem Sohn Udai überwacht worden sein. Prominentestes Opfer sei der im irakisch-iranischen Krieg zum Kriegshelden gekürte General Abdal Mutlak al-Dschaburi, angeblich der Kopf der Verschwörer. Darüber hinaus seien führende Mitglieder des al-Dulaimi-Clans exekutiert worden. Mitglieder dieses um die westirakische Stadt Ramadi siedelnden Clans waren schon 1994 Opfer einer Hinrichtungswelle geworden. Damals hatten Militärs aus der Familie gegen Saddam Hussein aufbegehrt.
Die in London und Beirut erscheinende arabische Tageszeitung al-Hajat berichtete Anfang des Monats, Saddam Hussein habe im Juli eigenhändig die Schwester seines im Februar getöteten Schwiegersohns Hussein Kamil erschossen. Sie soll Hussein vor dessen Leibwache und ihren Kindern ins Gesicht gespuckt haben und des Verrats an ihrer Familie bezichtigt haben. Daraufhin habe der irakische Staatschef die Kinder aus dem Raum führen lassen und ihre Mutter erschossen. Der frühere irakische Industrieminister Hussein Kamil hatte sich im vergangenen Jahr nach Jordanien abgesetzt. Anfang dieses Jahres kehrte er reuig zurück – und wurde erschossen.
Die jetzige Verhaftungs- und Hinrichtungswelle wurde vermutlich durch zwei Attentatsversuche ausgelöst. Einmal soll ein aus Husseins Takriti-Clan stammender Offizier in einem der Präidentenpaläste eine Bombe gelegt haben. Ein zweites Mal sollen Offiziere aus dem engsten Machtzirkel versucht haben, die Leibköchin Saddam Husseins zu überreden, ihn zu vergiften. Thomas Dreger
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