piwik no script img

„Ich drodle mit den Wummsern“

Die amerikanische Altentherapeutin Naomi Feil predigt den würdevollen Umgang mit dementen Alten – und füllt damit ganze Hallen  ■ Von Annette Wagner

Die alte Frau blickt sich suchend um. Ihre Unterlippe und ihre Hände zittern. Sie packt den nächstsitzenden Mann grob an der Schulter: „Papa, ich liebe dich doch.“ Eine ganze Kongreßhalle hält den Atem an. Das Ansteckmikro am Revers des flatternden Batikkleides überträgt ihr Wimmern, ihr jetzt zusammenhangloses Gebrabbel indiskret laut auf die Saallautsprecher. Dann fällt sie in sich zusammen, beginnt manisch mit den Füßen zu scharren. Ihr Kopf pendelt ziellos. „Ich liebe dich auch, Naomi“, sagt der Mann ruhig, streichelt ihre Wange – und kickt die Seniorentherapeutin damit aus ihrem Rollenspiel. Eigentlich wollte Naomi Feil ihrem Publikum zur Kongreßeröffnung in Baden-Baden die vier Stadien der Demenz – von anfänglicher Zeitverwirrtheit bis zum schlußendlichen Vor-sich-hin-Vegetieren – schauspielerisch demonstrieren. Jetzt bricht sie ab.

„It never happened to me, daß ein Mann spontan so gefühlvoll reagiert“, erklärt die 64jährige Amerikanerin den tausend Zuschauern gerührt. Aus dem Bauch heraus habe der Besucher den richtigen Einstieg in jene verhaltenstherapeutische Methode gefunden, die sie vorstellen will: „Validation“ – Praxis und Theorie des einfühlenden, anerkennenden Umgangs mit unheilbar verrückten Alten. Ein sperriges Fremdwort, für das im deutschen Pflegejargon bisher keine Entsprechung gefunden wurde. Als ganzheitliches Therapiekonzept wird Validation in Deutschland bisher erst in wenigen fortschrittlichen Pflegeheimen praktiziert.

Naomi Feils Grundsatz lautet: Wenn alte Leute hochgradig und irreversibel „verwirrt“ sind, wenn sie in fortgeschrittenem Stadium dement sind, ist es müßig, sie beharrlich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Es gibt einen Tag in Emma Blumes Leben, da macht es keinen Sinn mehr, sie im Realitätsorientierungstraining vor einen Spiegel zu setzen und nachsprechen zu lassen: „Ich bin Emma Blume, 72 Jahre alt, und ich wohne im St.-Hubertus-Stift.“ Denn die Gegenwart interessiert oder erreicht Emma Blume nicht mehr.

„Resolutionsphase“ nennt Feil diesen unbewußten Ausstieg aus der äußeren Realität. Die „Desorientierten“ packen ihren Koffer fürs Jenseits. Bevor sie sterben, müssen sie loswerden, was sie nicht mitnehmen wollen: alte Ängste, unterdrückte Schuldgefühle, unerfüllte Wünsche. Das ist für die Pflegenden manchmal streßig, manchmal demütigend. Häufig, so erzählt eine Kongreßteilnehmerin, die Lörracher Altenpflegerin Ruth Bruder, in der Kaffeepause, „werden wir ungewollt zum Auslöser einer Aggression“, zur stellvertretenden Zielscheibe. Dann zwicken und schlagen Demente, sie beißen; beschmieren das Klo mit Kot; sie beschimpfen andere unflätig. „If jemand spuckt on mich“, sagt Naomi Feil später in ihrem unnachahmlich amerikanisch-deutschem Kauderwelch, „darf ich das nicht persönlich nehmen.“

Auch fruchtlose Diskussionen um den Wahrheitsgehalt von bizarren Sexual- und Verfolgungsphantasien können Pflegende und Angehörige sich (er)sparen. „You don't have to know why“, predigt Naomi Feil. Im validierenden Gespräch spielt es keine Rolle, ob wirklich ein Mann „mit sooo einem riesigen Ding“ unterm Bett sitzt; ob Frau Blums Zimmergenossin wirklich ihre Spitzenunterhosen gestohlen hat; ob die Friseurin tatsächlich absichtlich die Haare ihrer Kundin ausreißt oder es sich um altersbedingten Haarausfall handelt. Die Desorientierte will durch ihre falsche Beschuldigung etwas verarbeiten. Wer ihr das abspricht, indem er beschwichtigend auf sie einredet, wird sie nur noch hysterischer machen. Oder noch depressiver. „Helfen Sie ihr, die losen Enden zusammenzuknüpfen“, appelliert Feil an ihr Publikum, das nun schon drei Stunden lang von dem leicht chaotischen Wechselspiel von Rollenspielszenen und theoretischen Einsprengseln folgt.

Fünfzehn verbale und nonverbale Techniken für Pflegende und Angehörige hat Feil entwickelt, von denen sie im sprunghaften Verlauf des Kongreßtages letztlich nur einige anreißt. Nummer eins ist simpel: achtmal tief durchatmen, sich selbst „zentrieren“, bevor man ins Gespräch einsteigt. Dann das Erzählte inhaltlich „sachlich wie eine Reporterin“, aber im gleichen aufgeregten Tonfall wiederholen, um der Patientin zu signalisieren, daß man sie ernst nimmt: „Was hat sie dir gestohlen, deine Spitzenunterhose?“ Auch wenn manche Äußerung von Dementen unverständlich bleibt („Ich drodle mit den Wummsern!“), kann man sie mit Fragen wie „War es lustig?“ oder „Geht es Ihnen gut dabei?“ animieren weiterzureden und dabei mehr über ihre Gefühle erfahren.

Zu den „nonverbalen Techniken“ kommt sie nicht mehr. „But you can look it up in my books“, tröstet sie. Da kann man nachlesen, daß der Einsatz von Musik nützlich sei, wenn jemand so verwirrt ist, daß ein Gespräch nicht mehr möglich ist. Daß es hilft, „ehrlichen, engen Augenkontakt“ zu halten. Und daß Berührungen angenehme Gefühle erwecken können: Streicheln am Hinterkopf (wie einst der Vater) oder an den Wangen (wie einst die Mutter).

Validation ist auch ein Geschäft. Das war bereits in der ersten Kaffeepause nicht zu übersehen, als die beiden deutschsprachigen Feil-Bibeln „Validation“ und „Ausbruch in die Menschenwürde“ stapelweise über den Verkaufstisch gingen. Ein 24 Minuten kurzes Demo-Video kostete stolze 90 Mark. 2.500 Mark soll man laut Flugblatt für eine fünf Wochenenden umfassende Ausbildung zum Validations-Anwender/-Worker hinlegen.

„Alzheimer ist keine Krankheit, Alzheimer ist ein Zustand“, sagt Naomi Feil. Womit sie keineswegs pathologische Befunde negieren will. Aber hochgradig Verkalkte können bis in den Tod hinein orientiert sein. Und umgekehrt. Feil behauptet nicht, daß man Alzheimer- oder andere Demenzkranke mit Validation kurieren kann: „Abgestorbene Gehirnzellen lassen sich nicht wiederbeleben.“ Aber man könne „sleeping ones aufwecken“, könne ungenützte Nervenverbindungen aktivieren. Und dadurch verhindern, daß die Desorientierten ins letzte Demenzstadium abrutschen, wo sie nur noch als „lebendige Tote“ vor sich hin vegetieren.

Feils optimistische Schätzung: „Wenn Sie über sechs Wochen hinweg zweimal am Tag nur fünf Minuten lang validierend arbeiten, kann das schon helfen, ein stabilisierendes Vertrauensverhältnis zwischen Pflegerin und Heimbewohner aufzubauen.“ Was nicht zuletzt auch den Pflegealltag erleichtert. Validierte Demenzerkrankte, so Feils Erfahrung, nässen weniger ein, laufen nicht so häufig weg. Darüber hinaus wirke die Verhaltenstherapie Validation sich durchaus auch auf einige Körperfunktionen aus, könne beispielsweise Atmung, Blutdruck, Muskeltonus normalisieren.

„Natürlich wissen wir das meiste schon, was Naomi Feil hier erzählt“, sagt eine Lörracher Krankenschwester. „Aus dem Gefühl heraus mach' ich das doch ohnehin so, aber so ausgefeilt hat es hier in Deutschland noch niemand formuliert.“ Durch Namomi Feils Validation-Promotion-Tour erhält das, was viele Pflegende täglich intuitiv versuchen, einen Namen, ein methodisches Raster – und eine ermutigende Identifikationsfigur.

Mit Standing ovations verabschieden die ZuschauerInnen Naomi Feil am Abend. „I hope none of you will ever be a living dead person“, ruft sie und verbeugt sich vor der klatschenden Menge. Von der Bühne geht eine professionelle Entertainerin – und eine Fachfrau, die Charisma und Feuer für ihr Anliegen versprüht. Mit ihrem Credo Validation drängt Feil den tristen Status quo der deutschen Pflegelandschaft einen Moment lang in den Hintergrund. Und erinnert die hiesigen AltenpflegerInnen daran, daß ihre Arbeit mehr sein kann als das, wozu die gleichnamige Versicherung sie gerne degradieren möchte: eine Summe minutengenau be- und abrechenbarer Handreichungen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen