: „Unsere Ambition sind die Zusammenhänge“
■ Lebt Berlin als Festspielstadt aus zweiter oder gar dritter Hand? Machen 24 Vorträge an ein und demselben Tag wirklich noch Sinn? Ulrich Eckhardt, Leiter der Berliner Festspiele, nimmt Stellung zu Fragwürdigkeiten des Festwochenprogramms
taz: Im Theaterprogramm präsentieren die Festwochen den „Tartuffe“ von Ariane Mnouchkine, der schon vor einem Jahr bei den Wiener Festwochen zu sehen war, außerdem die Werkstattarbeit „Gloucester Time/Matériau- Shakespeare/Richard III“ von Matthias Langhoff, die bereits in Avignon gezeigt wurde. Wieso muß Berlin aus der zweiten und dritten Hand leben, während etwa die Salzburger Festspiele maßgeschneiderte, frische Inszenierungen präsentieren?
Ulrich Eckhardt: Anders als Salzburg ist Berlin voll von ständig produzierenden Häusern. Da ist es nicht die Aufgabe der Berliner Festwochen, ebenfalls noch zu produzieren.
Unsere Aufgabe ist es vielmehr, maßstabsetzende Aufführungen von draußen hereinzuholen. Und zwar zur richtigen Zeit, was heißt: sobald es einen entsprechenden Kontext gibt. Denn unsere Ambition ist nicht, alles, was aktuell ist, zu einem Kaleidoskop zu addieren, sondern thematische Zusammenhänge zu finden.
Letztes Jahr wurde Ihnen vorgeworfen, ein allzu konventionelles Musikprogramm entworfen zu haben. Dieses Mal kann man denselben Eindruck gewinnen, zumindest wenn man sich an den großen Konzerten in der Philharmonie orientiert. Eine breite Aufführung von fast allen Werken von Johannes Brahms...
Wir haben zwei Komplexe mit französischer Musik, einmal die französische Romantik und dann die französische Musik zum Start des neuen Jahrhunderts, also Impressionismus, Satie bis hin zu Henri Dutilleux, der ja noch lebt und dessen 2. Symphonie hoffentlich in Anwesenheit des Komponisten von der Jungen Deutschen Philharmonie aufgeführt werden wird. Der Brahms-Zyklus scheint nicht in dieses Programm zu passen. Aber das täuscht, denn anhand von Brahms kann man umfassend darstellen, was die Faszination deutscher Musik für die Franzosen ausgemacht hat: einerseits der historisierende, romantische Gestus, andererseits das Visionäre, das auf die Geburtsstunde der Neuen Musik verweist.
Solche Programmentscheidungen werden natürlich auch immer mit den ausführenden Künstlern getroffen. Ich bin ein Gegner des Festspielleiters als Überkünstler, er soll das Programm im Gespräch mit seinen Künstlern machen. Und nun war dieser Brahms-Zyklus ein großer Wunsch des Berliner Philharmonischen Orchesters und des Chefs Claudio Abbado.
Es wird auch ein mehrtägiges Kolloquium zum deutsch-französischen Kulturtransfer zwischen 1789 und 1914 geben. An einem Vormittag beziehungsweise an einem Nachmittag stehen jeweils zwölf Vorträge auf dem Programm. Wer jemals ein Symposium besucht hat, kann sicher sein, daß so etwas nicht gutgehen wird: Vierundzwanzig Vorträge allein an einem Tag!
Wenn man thematisch konzentrierte Veranstaltungen machen will, braucht man ein umfangreiches Wortprogramm: Gesprächskreise, Diskussionen, Foren. Dieses Kolloquium ist vom Centre Marc Bloch konzipiert worden, eine insofern hochinteressante Einrichtung, als der französische Staat auf seine Kosten eine Forschungsstelle errichten ließ, die sich mit der Soziologie der Ost/ West-Stadt Berlin beschäftigt.
Das Centre Marc Bloch hat sehr viel Geschick mit solchen Kolloquien, und ich glaube, die von Ihnen angedeutete Gefahr besteht nicht, weil der Leiter Etienne François etwas beherrscht, was im deutschsprachigen wissenschaftlichen Raum wenig verbreitet ist: die Kürze, die zur pointierten Debatte führt.
Man muß darüber hinaus erwähnen, daß es weitere Vorträge, Symposien und Colloquien gibt, unter anderem auch mit Brigitte Sauzay und Rudolf von Thadden, die gemeinsam das in Schloß Genshagen beheimatete „Zentrum für Deutsch-Französische Studien“ leiten. Leider eine wenig bekannte, aber ganz außerordentlich wichtige Einrichtung, die auch François Mitterrand mehrfach besucht hat und die immer wieder eine Plattform für die Gespräche zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern bietet.
Was planen Sie für das nächste Jahr?
Das nächste Jahr ist für mich persönlich besonders wichtig, nicht nur weil ich dann 25 Jahre hier arbeite, sondern weil es auch mein Lebensthema ist: die künstlerische Entwicklung auf dem Hintergrund des geteilten Deutschlands. Also wie sich seit 1945 die Kulturlandschaften entwickelt haben. Es ist an der Zeit, ohne diesen ganzen Stasi-Quatsch und ohne diese wechselseitigen Denunziationen und auch Verdrängungskünste in aller Ruhe zu betrachten, wie sich die Geschichte zwischen 1945 und 1990 entwickelt hat und was wir für das 21. Jahrhundert daraus lernen können. Interview:
Michael Schornstheimer
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