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Über allen Gipfeln ist – Karlsruhe

■ Eine Verteidigung des höchsten deutschen Gerichtshofs gegen die Politik

„Ich halte bei der Familie Schutzwache, die bedroht und verängstigt wird, weil sie ihren Prozeß beim Verfassungsgericht gewonnen hat.“ Derartig impulsive und mutige Reaktionen hätte der Karlsruher Spiegel-Korrespondent Rolf Lamprecht in der Krise nach dem Kruzifix-Urteil des letzten Sommers gern von den Richtern des Bundesverfassungsgerichts gesehen.

In seiner Streitschrift „Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts“ geht Lamprecht nicht nur mit den Tiefschlägen aus Union und FDP hart ins Gericht. Er kritisiert auch die laue Reaktion der angegriffenen Richter. „Vornehm geht die Welt zugrunde“, lautet sein trockener Kommentar.

In den frühen Jahren des Gerichts, so Lamprecht, habe das Kollegium durchaus mehr Biß gezeigt. Lamprecht erinnert an das Jahr 1961. Nachdem Karlsruhe Adenauers Pläne für ein Kanzlerfernsehen kassiert hatte, trat der alte Kanzler vor den Bundestag und warf den roten Roben den Fehdehandschuh hin: „Das Kabinett war sich darin einig, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist.“

Karlsruhe reagierte umgehend mit einer Erklärung wider „die Schmähung des Gerichts“, die auch heute nichts an Aktualität verloren hat: „Erstens: Jedermann steht frei, Entscheidungen des BVerfG kritisch zu würdigen oder auch für falsch zu halten. Zweitens: Kein Verfassungsorgan ist nach der grundgesetzlichen Ordnung befugt, zu beschließen und amtlich zu verlautbaren, ein Spruch des BVerfG entspreche nicht dem Recht. Drittens: Der Boden einer sachlichen Kritik wird verlassen, wenn dem Gericht unterstellt wird, eine Entscheidung sei von Ressentiments beeinflußt.“

Das war 1961. Die deutsche Politik hatte in den folgenden Jahrzehnten diese Lektion verinnerlicht. So blockierte das Verfassungsgericht in der sozialliberalen Phase zwar allerlei Reformen, etwa beim Schwangerschaftsabbruch und der Kriegsdienstverweigerung. Die linksliberale Regierung wagte jedoch kaum mehr, als das Gericht um etwas mehr „Zurückhaltung“ bei „Wertinterpretationen“ zu bitten.

Ganz anders die Bundesregierung (und die bayerische Landesregierung) der Jahre 94/95. An den Reaktionen auf vier BVerfG-Entscheidungen dieser Zeit zeigt Lamprecht deren „verfassungskriminelle Energie“, die Elemente eines „Staatsstreichs von oben“ kennzeichneten. Detailliert zeichnet er die Debatte um die beiden „Soldaten-sind-Mörder“-Urteile sowie um die Sitzblockaden- und die Kruzifix-Entscheidung nach. Vor allem die Aufrufe, das Kruzifix- Urteil einfach zu „ignorieren“, die Vergleiche mit der NS-Diktatur und die Aufrufe zum „Widerstand“ wertet Lamprecht als „Appell zum Verfassungsbruch“.

Die Beschreibung dieser Debatten erscheint aus heutiger Sicht zwar etwas breit geraten. Vielleicht wird man aber in zehn Jahren über Lamprechts Materialsammlung genauso froh sein wie heute über seinen Rückblick auf die Konflikte der ersten Jahrzehnte deutscher Verfassungsrechtsprechung.

Etwas unmotiviert hat Lamprecht seiner „Beweissicherung“ (150 Seiten) noch eine „Bestandsaufnahme“ (80 Seiten) angefügt. Dort scheint sich Lamprecht alles von der Seele geschrieben zu haben, was ihm sonst zum Verfassungsgericht einfiel. Ausführlich kritisiert er nun selbst die roten Roben. Vor allem beim 93er Verdikt gegen das neue Abtreibungsrecht sei den RichterInnen „jede Rückkoppelung an den Souverän verlorengegangen“.

Doch Lamprecht darf so etwas sagen, schließlich ist der Spiegel ja kein Verfassungsorgan... Christian Rath

Rolf Lamprecht: „Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, Beweissicherung und Bestandsaufnahme“. Nomos Verlag, 229 Seiten, 59 DM

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