■ Die erregte Debatte um die Sexualverbrechen in Belgien verhüllt, daß am wenigsten den Kindern damit geholfen wird: Ein öffentliches Morallehrstück
Im Sexuellen geht es wie im Religiösen, der anderen menschlichen Leidenschaft: Sünder sind wir allemal. Besudelt und kleinlaut stehen sie da, die Täter. Und einige Wissenschaftler bekennen stammelnd ihr Unvermögen, die unbegreiflichen Sexualverbrechen zu erklären, zu kurieren und zu verhindern. Sünder, Täter, Wissenschaftler: alles Männer; Frauen und Kinder bleiben von den Verdikten stets verschont.
Millionen verfolgen nach wie vor gebannt die schreckenerregenden Nachrichten aus Belgien, die für einige Tage sogar die Schlagzeilen beherrschten. Entsetzen macht stumm. Kann es eine andere Haltung geben als Empörung über die Verbrecher?
Ernest Borneman, er hat sich im vorigen Jahr selbst das Leben genommen, wäre jetzt vielleicht froh: so viele Anfragen und Interviews. Er mußte sich einen Verteidiger der Pädophilie nennen lassen. Inzwischen käme dies auch in seinem Fall einer bedrohlichen Beschimpfung gleich. Denn er hat sich lebenslang für das Geschlechtsleben des Kindes interessiert und dabei keinen Graben gegen jene Erwachsenen gezogen, die daran gewaltfrei anknüpfen zu können glauben.
So einen hätte man jetzt gern dem gespannten Publikum präsentiert. Auch ich habe diese Anfragen erhalten, vor allem von sensationsheischenden Medien wie BamS und von RTL. Aber ich vertrete nicht die Ideen Bornemans.
Die Sexualwissenschaft fühlt sich nicht zuständig, verbrecherische Vorgänge aus der Ferne zu kommentieren. Das Strafrecht gilt ihnen nicht als ein probates Mittel, auf die Entgleisungen zu reagieren. Nur als Gutachter im Gerichtssaal läßt man sich hinzuziehen, denn das stand einmal am Beginn ihres Fachs. Sex & Crime gehören zu einem anderen Genre. Richtig!
Aber die öffentlichen Reaktionen unkommentiert zu lassen, das leuchtet schon weniger ein. Die Sexologen teilen zwar die dominierende Sexualmoral, aber distanzieren sich auch nicht von ihr. Es wäre zwecklos und schädlich. Und dann ist da noch die Sache mit den feministischen Sexualdebatten. Als von Natur aus ahnungsloser Mann hierzu Stellung zu beziehen und es mit mindestens einer Seite zu verderben, verspräche nichts als Ärger.
Einem aufgebrachten Zeitgeist gegenüber versagt wissenschaftlicher Ratschlag. Wer sich lange mit einer Sache, auch einer verbrecherischen, befaßt hat, regt sich scheinbar nicht mehr so auf. In Wirklichkeit regt sich so jemand anders auf: Mit langem Atem und mit einem Blick auf die verzettelten Hintergründe. Wo eine soziale Bewegung ein Thema anheizt, muß sich jede Wissenschaft zurückziehen; allzu verschieden lodern die Temperamente.
Es muß indessen gesagt werden: Was als Sex-mit-Kindern thematisch derzeit die Gemüter aufwühlt, besitzt alle Merkmale einer Moralpanik. Am Anfang stehen die wirklich schlimmen Tatsachen – Entführung, sexuelle Gewalt, fahrlässige Tötung. Tatsachen also, die immer und überall existieren können. Die Panik besteht in einer maßlosen Erregung des Kollektivbewußtseins.
Maßlos deshalb, weil ein Schreckensgemälde omnipräsenter Gefahr heraufbeschworen wird. Micha Hilgers Skizze von der „Gesellschaft heimlicher Kinderschänder und Perverser“ belegt dies. Alle Sicherheit wird zuschanden, einzig das Lynchen verspricht noch Gerechtigkeit.
Wann endlich bräche ich denn nun den Stab über diesen Männern? fragen mich nun Leser meines Büchlein über Pädophilie. Jedenfalls empfinden viele, daß die Täter keine Menschen mehr sind. Bundesministerin Claudia Nolte will die Namen der Verurteilten sogar öffentlich bekannt machen lassen, um die Täter aus der Gemeinschaft auszuschließen.
Die wirklichen Ereignisse werden so fast zugedeckt durch die öffentlichen Reaktionen auf sie. Das haben vor allem einige profitorientierte Massenmedien hingekriegt. Die öffentliche Inszenierung des Horrors gleicht einem Lehrstück, so mustergültig türmte man die Katastrophenhäppchen aufeinander. „Die Polizei hofft, bis morgen früh weitere Leichen zu finden“, hieß es in den Rundfunknachrichten. Nicht immer verriet sich der widerliche Eifer so deutlich.
Die Bilder der befreiten Kinder und der polizeilichen Grabungen, die Meldungen über die Straftaten der Autoschieberbande und der mutmaßlichen Beteiligten wirkten solange noch alltäglich, wie sie nicht in geeignetem Rahmen präsentiert wurden. Ausgewählt, aufbereitet und kommentiert transportierten sie einen erweiterten Gehalt. Neben das Schauerdreieck von Sex & Gewalt & Tod trat das Paradox von einzigartig-ungeahnt und jederzeit-überall-möglich. Die Kombination wirkt.
Wenn sich Pulverdampf und Blitzlichtgewitter verzogen haben, wird so etwas wie die Banalität eines Verbrechens zurückbleiben, das vorkommt und das nicht bereits in seinen Anfängen entdeckt worden ist. Wir werden uns zum wiederholten Male mit der Tatsache abfinden müssen, daß Verbrechen geschehen und nicht vollständig verhindert werden können. An den Texten des Strafrechts und den Praktiken des Ermittlungsapparates wird sich wohl nichts ändern, denn die sind gewappnet.
Aufgrund erhöhter privater Aufmerksamkeit wird es eine Weile vermehrt Anzeigen bei der Polizei geben, begründete und unbegründete. Diejenigen, die „so etwas nicht für möglich gehalten hatten“, werden von neuen Grausigkeiten überrascht werden.
Auch die Stockholmer Konferenz wird nichts daran ändern, daß in Ländern mit großer Armut die Prostitution blüht. Und Tourismus anzieht. Die Illegalisierung wird die bekannten Auswirkungen haben: Die Dienstleistung wird teurer, und sie wird zugleich verheimlicht. Immerhin liegt das im Sinne des Kinderschutzes: Der Aufwand für die Geheimhaltung schafft Arbeit im Land.
Eines allerdings schafft Empörung und Strafdrohung nicht: die Nachfrage nach der verbotenen Sexualität zum Erliegen zu bringen. Dazu müßten andere Verhältnisse her: zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen, zwischen den Ländern. Rüdiger Lautmann
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