Das Erbe des proletarischen Judenhasses: Antizionismus?

Mario Keßlers Untersuchung über das Verhältnis der SED zu den Juden: die seltsame Allianz von Antifaschismus und Antisemitismus  ■ Von Karin Hartewig

Von Walter Ulbricht ist sinngemäß überliefert, daß er – ganz der populistische Antikapitalist – über die Arisierungen geäußert habe: Wenn Hitler die jüdischen Kapitalisten nicht schon „enteignet“ hätte, hätten dies die Kommunisten nach 1945 besorgt. Andererseits gab er aber noch vor Kriegsende einmal selbstkritisch zu bedenken, daß die KPD die rassistische und antisemitische Dimension des Faschismus wohl unterschätzt habe.

Mario Keßler, ein ausgewiesener Kenner der Komintern und der jüdischen Frage im internationalen Maßstab, beschreibt in der vorliegenden Darstellung die ambivalente Haltung und Politik der KPD/SED gegenüber den Juden in den ersten beiden Dekaden der Nachkriegszeit. Im Mittelpunkt stehen drei Themen: Die Diskussion über Schuld und Verantwortung für den Holocaust, die Form der Wiedergutmachung in der SBZ und die antisemitischen Diskriminierungen in der Phase der politischen Säuberungen 1949 bis 1953 sowie die sich verändernde Position der SED zu Israel von der Staatsgründung bis zum Sechstagekrieg 1967. Darin zeigt der Autor auch, wie heterogen das politische Meinungsspektrum innerhalb der SED anfangs war. Gerade die Frage der Wiedergutmachung für jüdische Opfer des Nationalsozialismus polarisierte die KPD/SED ungemein, und sie wurde zum Feld eines ideologisch-politischen Machtkampfes, den die Fraktion der antifaschistischen Widerstandskämpfer, die überwiegend aus proletarischem Milieu stammten, letztlich gewannen.

Das Buch präsentiert in vielen Teilen Ergebnisse der neueren Literatur. Es bleibt vorwiegend auf einer deskriptiven Ebene, entwickelt also keine „großen Thesen“. Aber es gibt darin ein Leitmotiv. Untergründig treibt den Autor eine vielfältige Enttäuschung bei weitem nicht nur über die SED, sondern über die sozialistische und kommunistische Bewegung: Der Autor setzt die Politik der SED gegenüber den Juden implizit in Beziehung zu einer minoritären Anfälligkeit der deutschen Arbeiterbewegung für einen „lumpenproletarischen Antisemitismus“ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Er stellt in einem Exkurs die Geschichte des Antisemitismus in der KPdSU bzw. in der Sowjetunion als Modell für die SED und DDR vor. Und er konstatiert in der Bewertung der Säuberungen 1952/53 und der Rolle Israels als Aggressor 1967 bei der westeuropäischen bzw. westdeutschen Linken eine Haltung, die mit der der SED im Effekt konform ging.

Dieser Kurzschluß ist besonders für das Jahr 1967 perfide, weil Keßler das kritische Abrücken westdeutscher Linker von Israel, das die Linke ingesamt tief spaltete, mit einer bellenden Polemik der SED gleichsetzte. Der Wechsel in der Perspektive auf die westliche Linke wirkt in beiden Abschnitten wie ein Argument der Entlastung für die Politik der SED. Allein in der Frage nach möglichen besonderen Motiven, historischen Hypotheken und politischen Gewinnen und Verlusten eines DDR-spezifischen „stalinistischen Antisemitismus“ in der Zeit der Säuberungen wagt der Autor Hypothesen. Erklärungsbedarf besteht ja zu Recht angesichts der Tatsache, daß es in der DDR, anders als in anderen osteuropäischen Ländern, keinen Schauprozeß unter antisemitischen Vorzeichen gegeben hat.

Ein Antisemitismus auf Umwegen

Keßler mutmaßt mit einiger Plausibilität, daß sich Ulbricht aus deutschlandpolitischen und historischen Erwägungen keinen offenen Antisemitismus leisten wollte, sondern unter der Chiffre der „Westemigration“ gegen jüdische Kommunisten vorging, und daß zum Protagonisten eines möglichen Schauprozesses in der DDR ein Nichtjude, Paul Merker, auserkoren wurde. Leider ist die Darstellung Keßlers nicht frei von Widersprüchen. So beschreibt er die ersten Verhaftungen und Parteiverfahren gegen jüdische Kommunisten aus der Westemigration 1949/50 mit allen Ingredienzen einer Stigmatisierung, die mit antisemitischen Stereotypen arbeitete, um im folgenden den sogenannten „stalinistischen Antisemitismus“ in der DDR ausdrücklich auf ein halbes Jahr zwischen dem Slansky- Prozeß im November 1952 und dem Tod Stalins im März 1953 zu begrenzen.

Zum Ende hin franst das Buch ein wenig aus. Der Autor vermengt im vierten Kapitel viele Formen der „Vergangenheitsaufarbeitung in der DDR“, von der Belletristik bis zur Dokumentation unsystematisch und in der Chronologie hin und her, springend miteinander. Hier wünscht man sich eine stärkere Differenzierung nach zwei Richtungen: Wie mit Erinnerung (Partei-)Politik gemacht wurde und in welcher Weise sich unter Umständen die hervorgebrachten Texte quer zu diesen Vorgaben stellten. Aber so erscheinen die Elaborate der Vergangenheitsbewältigung ausschließlich als platte Umsetzung einer parteipolitischen ratio.

Dabei belegen Keßlers wenige ausführliche Einzelbeispiele über die Publikationen Helmut Eschweges und ihre Hürden, daß die Darstellung der Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung der Juden ein umkämpftes Feld war. Und man kann hinzufügen, daß selbst politisch korrekte Texte zum Holocaust angesichts des Grauens einen emotionalen Überschuß enthalten, der sich weder durch eine ökonomistische Definition des Faschismus noch durch die Einbettung in den antifaschistischen Widerstand oder durch die Fixierung auf einen ideologischen Nutzeffekt gegen eine postfaschistische Bundesrepublik beseitigen ließ.

Einigermaßen irritierend wirkt, daß der Autor die Phase heißester Polemik gegen Israel als Übergang „von der Repression zur Toleranz“ überschreibt. Dahinter kann der Leser die (zutreffende) Interpretation vermuten, daß die SED in den 60er Jahren gegen die Juden im eigenen Land eine moderatere Minderheitenpolitik zwischen Privilegierung und Kontrolle praktizierte, während sie im Vergleich zu den übrigen kommunistischen Parteien der Bruderländer gegenüber Israel die Rolle des ideologischen Scharfmachers übernahm. Dies alles wird jedoch nicht systematisch entwickelt.

Agitation gegen Israel als Einfallstor

Einen komplett entgegengesetzten Eindruck erweckt aber die Auswahl von Dokumenten im Anhang des Buches. Sie reicht vom Beleg einer philosemitischen Haltung der SED (1949) über die antisemitisch durchwirkten Formulierungen der „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“ (1952) bis zur antizionistischen Polemik gegen den „Aggressor Israel“ im Sechstagekrieg (1967). Aus der etwas unglücklichen Dramaturgie dieser Anordnung könnte der Leser den voreiligen Schluß ziehen, die SED und damit die DDR sei mit den Jahren immer stärker antizionistisch, also auch antisemitisch geworden. Nun sollte beides nicht miteinander verwechselt werden, auch wenn die Trennschärfe in einzelnen Verlautbarungen gelegentlich hauchdünn war, und auch wenn Juden in der DDR die Einübung in eine antizionistische Polemik oft selbst als Einfallstor für einen real existierenden Antisemitismus fürchteten. Die einfache Gleichung stimmt aber nicht. Der Autor hätte hier Dokumente zitieren können, die zum Beispiel belegen, daß die SED sich gegenüber den Jüdischen Gemeinden seit 1953 politisch moderat und materiell großzügig verhielt.

Zuletzt werden 64 Kurzbiographien von Juden präsentiert, die im politischen und kulturellen Leben der DDR als SED-nahe Intellektuelle und Wissenschaftler bzw. als Parteifunktionäre der SED Einfluß hatten oder sogar zu den Prominenten zählten. Die Auswahl von A. Abusch bis A. Zweig ist ohne Anspruch auf Vollständigkeit, wie der Autor betont. Seine Kriterien werden nicht deutlich. Und so bleibt nach der Lektüre der ungute Eindruck zurück, hier werde eine Form von „Outing“ betrieben, die einen historischen Voyeurismus bedient.

Mario Keßler: „Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967“. Akademie Verlag, Berlin 1995, 221 Seiten, 68 DM