: Goethe in Panade
■ Bremer Buchläden für das Besondere (7): Im „Antiquariat Seinsoth“ kaufen selbst Japaner das Buch zum Kunstwerk
Drei- oder mehreckig, aus Pappe oder Kunststoff, mit Loch in der Mitte oder auch mit beigeliefertem Mehlsack - in Udo Seinsoths Antiquariat, Schwerpunkt Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts, fällt so einiges unter den Begriff „Buch“. „Außenseiter und Abseitiges“, so umschreibt der 45jährige, schwarz gekleidete Besitzer sein Sortiment, das von Lovis Corinth „Meine frühen Jahre“ (25 DM) bis zu Marcel Duchamp „Das große Glas“ (25.000 DM) reicht; die Übergänge zu Unikat und Kunstwerk sind fließend. Seinsoths Antiquariat ist das einzige seiner Art in Norddeutschland. „Die guten Kunden aus Bremen kann ich an einer Hand abzählen“, meint er. Macht aber nichts. Er bekommt Anfragen aus der ganzen Welt, erst kürzlich haben Japaner für mehrere zehntausend Mark bei ihm eingekauft.
Eine weltumspannende Bedeutung, die man dem alten Haus im Ostertor gar nicht zutrauen würde. Wäre da nicht der kleine Schriftzug im Fenster und die Wühlkiste im Vorgarten, der Laden in der stillen Seitenstraße „Beim steinernen Kreuz“ ließe sich leicht übersehen. Dabei befindet sich über seinen drei Parkettboden- und Stuckdecken-Zimmern auch noch die Galerie von Ehefrau Brigitte. Gemeinsame Aktionen bieten sich an und finden auch statt; Gerhard Rühm zum Beispiel hat sowohl oben ausgestellt als auch unten gelesen. Zum 10jährigen Bestehen 1990 allerdings hat sich Seinsoth eine Ernst Jandl-Lesung geschenkt, „mit 600 Leuten meine größte Veranstaltung.“ Erwähnenswert ist sonst vielleicht noch der japanische Fluxuskünstler Ay-O. Er hat hier neben einem Fernseher und einer Wagenfeld-Lampe auch Goethes Faust in Panade getunkt und in Öl gebraten.
Solange es nicht um seine eigenen Erstausgaben geht, läßt Seinsoth das kalt. Dennoch sind Bücher natürlich etwas ganz Besonderes für den gelernten Vermessungsingenieur, der den Beruf wechselte, nachdem Aktivitäten in der Studentenbewegung ihm sechs Jahre Berufsverbot eingebracht hatten. Der Antiquar verkauft nicht nur Bücher, er sammelt auch. Aus seinen Beständen über Yves Klein hat vor kurzem sogar das Neue Museum Weserburg eine Ausstellung zusammengestellt, in der sich so Exotisches findet wie das Judolehrbuch, das der Franzose vor Beginn seiner Künstlerkarriere verfaßt hat.
„Früher konnte ich keine Bücher hergeben. Ich wollte nur die Doubletten verkaufen“, erinnert sich Seinsoth. Aber in den 16 Jahren, die seit der Gründung des Antiquariats mittlerweile vergangen sind, hat sich einiges verändert. Während er sich früher verzehrt hat nach seltenen Exemplaren, weiß er heute, daß irgendwann jeder Titel wiederauftaucht, in einem Zyklus von etwa fünf, sechs Jahren.
Und trotzdem gibt es sie, die Sternstunde im Leben eines Antiquars: Für Seinsoth an dem Tag, an dem er die vom verstorbenen Kölner Galeristen Stümke angekaufte Bibliothek durchstöberte. Dabei fiel ihm eine französische Ausgabe der „Topographie des Zufalls“ von Daniel Spoerri in die Hände. In ihrem Anhang steckte eine mit Watte überklebte Zeichnung; Unterschrift „für Daniel - von Meret“. Meret, das war die Objektkünstlerin Meret Oppenheim, soviel war klar.
Nur zwei Wochen später traf Spoerri persönlich in Bremen ein, zur Eröffnung seiner Ausstellung im Haus. Seinsoth zeigte ihm den Fund, und der Künstler fiel ihm spontan um den Hals. Nach diesem Buch hatte er dreißig Jahre gesucht - auch ein Beitrag zur „Topographie des Zufalls“.
Anja Robert
Antiquariat Beim Steinernen Kreuz, Beim steinernen Kreuz 1, 28203 Bremen, Öffnungszeiten: Di - Fr 10-13.00 und 15-18.30 Uhr, Sa 10-14.00 Uhr
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