„Ich hab' hier meine Familie“

Engumschlungen sitzen Jugendliche am „Scheiß Bahnhof Zoo“. Nach der Räumung der besetzten Häuser suchen sie draußen Geborgenheit. Erzählungen über Drogen, U-Bahnsurfen und Tod, aufgezeichnet  ■ von Gereon Asmuth

Wie in Zeitlupe fliegen die Fäuste knapp am Gegenüber vorbei. Die beiden vollgedröhnten Punks können sich kaum auf den Füßen halten. Der Grund für den Kampf bleibt unklar. Die Regeln sind um so deutlicher. „Laß die das mal untereinander ausmachen“, ruft einer der Umstehenden in der schmalen Jebenstraße hinter dem Bahnhof Zoo.

Die Kämpfer halten inne und werfen Ketten und Messer weg, bevor sie wieder aufeinander losgehen. Der in Trance geführte Tanz endet in der Umklammerung der Körper. Der Unterlegene verdrückt sich mit leicht zerschrammtem Gesicht in den Bahnhof Zoo, verfolgt vom Urteil des Siegers: „Laß dich hier nie wieder blicken.“

In der Drogen- und Obdachlosenszene rund um den berüchtigten Bahnhof treffen sich immer mehr junge Punks, die noch vor wenigen Monaten in besetzten Häusern lebten. „Hier am Zoo existiert die Freundschaft, die manche Leute gar nicht kennen.“ Der 26jährige Paul* muß es wissen. Vor fünf Jahren war er das erste Mal hier gestrandet. Und noch immer hofft er hier wieder wegzukommen. „Ich hab' angefangen zu schnorren. Dann kriegst du zu hören: Geh doch arbeiten! Aber ohne Wohnung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. Das ist ein Kreislauf, aus dem man ohne Hilfe nicht mehr rauskommt. Aber gerade wenn man bereit ist, die Hilfe anzunehmen, wird man verarscht. Dann sagen die: Mach deine Sache allein.“

Zwei Wachschützer vor dem Seiteneingang des Bahnhofs bitten um „ein wenig Platz, damit die Leute hier noch durchgehen können“. Die Punks verziehen sich auf die andere Straßenseite. „Zweimal am Tag wirst du kontrolliert“, erzählt Paul. „Und wenn du keinen Ausweis hast, kommst du mit auf die Bullenwache. Dann wirst du erst mal vertrimmt.“

Auf dem Bürgersteig wächst die Gruppe nach und nach auf mehr als zwanzig schwarz-bunt Gekleidete. Sie leben hier rund um den Bahnhof, manchmal im Tiergarten, manchmal auch am Breitscheidplatz. Eine der Überlebenshilfen waren früher die besetzten Häuser, in denen die Jugendlichen Unterschlupf fanden.

„In der 80“, erzählt der 17jährige Bogie, und meint damit ein Haus im Friedrichshain, das im Frühjahr nach einer mehrwöchigen Besetzung geräumt wurde, „da gab es ein paar Hausregeln. Daß Spritzen verboten ist. Die Leute flogen raus. Daß keine Schlägereien in den Häusern sind und daß die Leute, die pennen, in Ruhe gelassen werden. Da wurde überhaupt nichts genommen, vielleicht mal ein paar Pappen [LSD; d.A.] und Gras und E [Ecstasy; d.A.] und so was. Das hat soooo geil geklappt, aber seitdem die Leute sich getrennt haben, hören wir nur noch: Tot, Junkie, tot, Junkie. Einer, der in der 80 von Anfang an mit besetzt hat, hat nach der Räumung überhaupt keinen Bock mehr gehabt zu leben. Erst ist er auf den Strich gegangen, dann haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ständig die Räumungen und keine Penne haben, deswegen nehmen sich die Leute das Leben.“

„Locke und Peter waren gute Freunde von mir“, erzählt Pete* (19). „Erst waren die beiden am Alexanderplatz, wo sie noch Freunde hatten, die ihnen geholfen haben. Dann sind sie zum Zoo gekommen. 'ne Woche später hat Peter sich zwölf Pappen und zehn Es geklinkt, ist drauf hängengeblieben. Dann sind die S-Bahnsurfen gegangen. Der Locke hat sich noch verabschiedet, und dann war er tot. Wegen diesem Scheiß Bahnhof Zoo und weil sie keine Penne hatten.“

Der sichtbare Drogenkonsum während der Gesprächsrunde hält sich in Grenzen. Nur das Päckchen Drehtabak findet reißenden Absatz. Die frisch herangeschleppten Bierflaschen werden brüderlich geteilt.

„Ich nehm' im Moment vielleicht ein, zwei Pappen im Monat und rauch' ein bißchen Hasch und sauf'. Von dem Rest bin ich runter.“ Pete ist sich sicher, daß er den Absprung von den Drogen geschafft hat. Aber er hat Angst um seine Freunde, aus eigener Erfahrung. „Letztes Jahr im August wurde das besetzte Haus in der Bergstraße geräumt. Ich hatte keine Penne und bin zum Zoo, weil hier Freunde waren. Dann rennt man hier so rum und kriegt das auch mit von wegen Pillen und Schore [Sammelbegriff für alle Drogenpulver, meist Heroin; d.A.]. Irgendwann ist man soweit, daß man sich sagt, ja gut, wenn die alle was nehmen, dann nehm' ich das auch. So bin ich draufgekommen. In Bremen hab' ich 'nen Entzug gemacht, beim Arzt. Drei Monate hab' ich das durchgemacht. Das war alles ziemlich heftig. Dann hab' ich's aber geschafft, und schließlich bin ich wieder hergekommen. Jetzt wohn' ich wieder in einem besetzten Haus im Friedrichshain, seitdem bin ich einigermaßen klar.“

Seine Rückkehr zum Zoo begründet Pete mit der Sorge um seine Freundin. „Die ist auch auf Pille und Schore und kriegt ein Kind. Und die will ich da eben von runterkriegen. Zwei Wochen war sie jeden Tag breit, aber diese Woche hat sie fast nichts geschmissen, weil wir sie weggekriegt haben von hier ins Haus. Da passen die Leute schon auf, daß sie nichts einschmeißt und sich kaputtmacht.“

Die Jugendlichen sitzen engumschlungen auf dem Bürgersteig, auch die zwischen ihnen umherwuselnden Hunde werden mit Zärtlichkeiten bedacht. Sie umarmen und drücken sich. Unter dem ständigen Drogenkonsum geraten die körperlichen Zuwendungen aber gelegentlich belanglos und zufällig. „Wer bist denn du? Ich bin Gabbel*“, begrüßt eine hinzukommende Punkerin mit geweiteten Pupillen die Besucher und küßt den verdutzten Fotografen auf den Mund. Doch die Punks genießen das Gefühl von Geborgenheit. Hier versteht jeder die Geschichte des anderen.

„Ich bin abgehauen, weil meine Mutter anschaffen gegangen ist und auf Koka kam. Dann bin ich ins Heim gekommen. Da wurde ich von einem Erzieher belästigt. Außerdem hatte ich keinen Bock, daß mir jemand sagt, du hast um acht Uhr ins Zimmer zu gehen.“ Nico* ist 15. Auch sie hat in der Rigaer Straße 80 gewohnt, bis zur Räumung. „Da war ich Gott sei Dank nicht da. Ich hab' 'ne Vermißtenanzeige draußen, die hätten mich mitgenommen. Im Haus hatte ich nur 'ne Jacke. Aber jetzt hab ich wieder 'ne neue, und die alte krieg' ich auch hoffentlich wieder, da ist gerade 'ne Freundin mit unterwegs. Jetzt schlaf' ich hier auf der Straße. Ich hab' hier meine Familie, bin nie allein. Warum sollte ich Angst haben? Ich hab nur Angst, daß ich im Winter erfrier'. Gestern hab' ich 20 Mark geschnorrt. Mit 'ner Freundin. Wir haben 'ne Zwanni-Kugel Schore gekauft. Aber ich drück' nicht. Ich versuch' da jetzt runterzukommen, weil es einfach Scheiße ist. Das macht 'nen Menschen total kaputt. Aber wenn man auf der Straße ist, da ist man auch kaputt. Da nimmt man halt all die Drogen, um die ganze Sache mal zu vergessen. Aber das hilft auch nichts mehr.“

„In Berlin gibt es zwei Plätze, wo man Leute findet. Alexanderplatz und Bahnhof Zoo. Am Zoo hängen wir meistens ab, weil hier alte Freunde von und sind“, erklärt Pete die Anziehungskraft des Bahnhofs. Er ist einer der wenigen hier, die mit ihrem Irokesenschnitt und den Sicherheitsnadeln in der Jacke dem klassischen Punkstereotyp entspricht. Die 16jährige Mara* ergänzt: „Weil hier die meisten Dealer abhängen oder die meisten, die davon Plan haben. Das ist halt das Revier der Junkies.“

Das Revier ist genau abgeteilt. „Hier am Zoo, wenn man vorne rausgeht, rechts runter an der U-Bahn vorbei, da ist die Pillenseite. Am Breitscheidplatz kriegt man die Schore“, erklärt Pete. „Die Leute holen sich lieber zwei Rohypnol für vier Mark, anstatt daß sie sich 'nen Korn kaufen und davon breit werden. Nach zwei, drei Wochen reichen die zwei Pillen nicht mehr, und nach zwei Monaten sind sie auf Schore. Und wenn sie auf Schore sind, ist ihnen auch scheißegal, ob sie auf den Strich gehen, weil, dann ist ihnen alles scheißegal. So hab' ich schon viele Freunde verloren. Sechs oder sieben Stück sind im letzten Jahr gestorben, auch hier am Zoo.“ Prostitution ist für die Punks eine alltägliche Möglichkeit zur Finanzierung der Drogen. Aber wenn sie darüber reden, klingen sie unsicher und distanziert. Sie erzählen von Freunden, die auf dem Strich waren, oder von potentiellen Freiern, von denen sie sich zum Essen einladen ließen, ohne daß mehr passiert wäre.

Nur die 15jährige Nico gibt es zu: „Ich hab' einmal angeschafft, für Drogen. Aber das mach' ich nicht mehr.“ Und auch sie wechselt schnell das Thema und erzählt lieber von anderen Möglichkeiten, Geld und Essen zu beschaffen. „Wir wollen ja echt niemandem was tun. Aber wenn wir einfach keine Kohle mehr haben, kann es passieren, daß wir jemanden abziehen. Hin und wieder geh' ich zum McDonalds und schau, ob da noch Reste sind, weil ich einfach Hunger hab'. Da hinten gibt's ja 'ne Bahnhofsmission, aber da gibt es ja meistens nur trockenes Brot.“

„In der DRK-Station gibt es auch Suppe“, erzählt Mara. „Da fühlen wir uns ganz wohl, da kann man duschen und Wäsche waschen. Vor 'nem halben Jahr waren da immer zwei, drei Tische frei. Jetzt mußt du mindestens zwei Stunden stehen, damit du deinen Teller Suppe kriegst, weil einfach immer mehr Leute kommen.“

Ein bulliger Typ im Seeräuberlook drängelt sich in die Gruppe und umfaßt von hinten das zierlichste Mädchen am Platz. „Wenn ich dich das nächste Mal steche, will ich nicht noch mal erleben, daß du wieder so rumzuckst und ich dreimal nachpopeln muß.“ Die kaum 14jährige lächelt gequält, bevor sie sich von dem Typen zur Seite ziehen läßt.

Sie legt sich in die Arme einer Freundin. Mit einer Spritzennadel sticht der Seeräuber ihr ein Loch durch die Lippe und füllt es mit einem Schmuckdraht. „Laß dir mal Desinfektionszeug draufmachen“, schickt er das Mädchen zur Bahnhofsmission, das nach dem neuen Piercing den punkigen Freunden ein bißchen ähnlicher sieht.

„Wenn wir ein Besetztes hätten“, meint Nico, „dann hätten wir auch wieder 'nen Wohnplatz. Dann hätten wir nicht diese Scheiße, wo du irgendwas schmeißen mußt, damit du in der Nacht nicht erfrierst. Wenn da ein, zwei besetzte Häuser sind, das stört die Menschen doch nicht, wenn wir uns ruhig verhalten. Die müssen da ja nicht reingehen.

Wir brauchen ja nicht viel, nur zwei Sachen: was, wo wir uns tagsüber aufhalten können und wo wir schlafen können. Und wenn wir zu sechst in einem Raum schlafen, das ist doch nicht schlimm. Wenn wir das Geld hätten, würden wir sogar Miete bezahlen. Aber wir haben die Kohle leider nicht.“

„Bei den Häusern, die schon länger besetzt waren, da kriegen die Leute Wohnungen angeboten. Aber bei den anderen, da wird einfach geräumt, und die Leute sitzen auf der Straße“, ärgert sich Pete. „Uns hat nach der 80 irgend so ein Spinner vom Jugendamt angeboten, wir kriegen irgendeine Penne“, erinnert sich Barnie*. „Aber da hat sich bis heute noch nichts getan.“ „Und was ist mit den Leuten, die noch keine 18 sind, die von zu Hause abgehauen sind, weil einem die Eltern auf den Keks gehen?“ fragt Nico. „Da bleibt nichts anderes übrig als ein besetztes Haus oder die Straße.“

„Wir wollen doch nur unsere Ruhe haben“, meint Mara. „Aber solange wir geräumt werden, ist doch klar, daß wir aggressiv werden. Wir wollen einfach nur zusammenleben, Zusammenhalt, wie früher. Aber wir kriegen das einfach nicht hin, solange der Schönbohm immer noch Häuser räumt. Dabei wollen die die Häuser doch gar nicht haben. Erst wenn wir besetzen, heißt es auf einmal, wir könnten das und das damit machen. Genau wie in der Kreutzigerstraße, da hatten sie auch nichts vor. Kaum waren wir draußen, haben sie das plattgemacht, nur damit das nicht mehr besetzt werden kann.“

„Wenn die letzten zehn besetzten Häuser geräumt sind“, prognostiziert Paul, „dann sind die ganzen Punks auf der Straße. Dann rennen die Schnittläuche, auf deutsch gesagt die Bullen, hier rum und machen ein Aufsehen, weil die Punks am Bahnhof sind.“ „Wir können uns ja nicht in Luft auflösen. Wo sollen wir denn hin? Wir dürfen hier nicht sein, wir dürfen eigentlich nirgendwo sein“, meint Nico, und Bogie ergänzt: „Irgendwann wird das ein ganz schlimmes Ende nehmen.“

Salle* ist 18. Einer der wenigen Farbtupfer auf ihrer leichenblassen Haut ist der blaue Fleck in der Ellenbeuge. Ihre Augen versteckt sie hinter einer Sonnenbrille. Erst auf direkte Ansprache wird sie ein wenig wacher. „Klar nehm' ich Drogen, alles mögliche. Das Leben ist doch ernst genug, das ist wenigstens ein bißchen lustiger. Außerdem mach' ich sowieso, was ich will. Ich häng' gern am Zoo ab, weil die Leute mich so akzeptieren, wie ich bin. Egal ob ich Drogen konsumier' oder nicht. Ich bin ich. Ich veränder mich nicht durch Drogen.“ Salle hat Maras T-Shirt an. Mara ist sauer, weil sie es nicht zurückgeben will. Kaum aufschauend beharrt Salle darauf, das Hemd gehöre ihr, ein Freund habe es ihr geschenkt.

Der Ton zwischen den beiden wird giftiger. Die anderen mischen sich ein, wollen das Shirt an der Sicherheitsnadel erkennen, die die Träger auf Salles Schulter zusammenhalten. Doch Salle verweigert sich, fällt zurück in eine apathische Ignoranz. „Sie war mal eine meiner besten Freundinnen“, erzählt Mara resigniert. „Seit sie auf Drogen ist, hat sie sich total verändert. Jetzt beklaut sie sogar schon ihre Freunde.“

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert