■ In Westbank und Gaza schießen Israels Soldaten und Palästinas Polizei aufeinander. Netanjahu ist 100 Tage im Amt, der Friedensprozeß liegt in Scherben: Tote statt Frieden im Westjordanland
In Westbank und Gaza schießen Israels Soldaten und Palästinas Polizei aufeinander. Netanjahu ist 100 Tage im Amt, der Friedensprozeß liegt in Scherben
Tote statt Frieden im Westjordanland
Im Flur des Krankenhauses von Ramallah liegen die Verletzten blutend auf Tragen. Stundenlang warten sie auf die Behandlung ihrer Schußverletzungen an Armen und Beinen, bis diejenigen, die noch schwerer getroffen wurden, operiert sind. Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen drängen sich auf, und die Äußerungen lassen die Zeiten des Hasses wieder aufleben. „Zur Hölle mit den verdammten Israelis“, sagt der Arzt Ziad Selim, als ein weiterer Verletzter auf einem Rollstuhl vorbeigefahren wird. „Es kann keinen Frieden geben.“
Sein Kollege Mustafa Bargouti berichtet: „Wir hatten einen Mann, der eine Kugel im Herz hatte. Wir mußten ihn gleich hier in der Notaufnahme aufschneiden.“ Bargouti schildert, wie er mit einem Krankenwagen zur Klinik fuhr – zwei Verletzte mußten aufeinander liegen, weil es keinen Platz mehr gab. Eine Kugel, abgefeuert von israelischen Soldaten, habe das Fenster des Fahrzeuges getroffen.
In Ramallah hatte die palästinensische Polizei zunächst versucht, Hunderte von Menschen vom Sturm auf einen israelischen Armeeposten abzuhalten – und erntete Spott für ihre Beschwichtigungsversuche. Doch als der Ruf „Es gibt Tote, es gibt Tote“ immer lauter wurde, schossen die Polizisten in Richtung der israelischen Soldaten. Der Spott verwandelte sich in Jubel.
Für viele sind die Auseinandersetzungen der endgültige Beweis dafür, daß der Friedensprozeß am Ende ist. „Ich war ein überzeugter Befürworter des Friedensprozesses“, sagt der 33jährige Arzt Selim, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Nablus lebt. „Aber jetzt nicht mehr. Ich habe zu viele Schußverletzungen durch die Israelis gesehen, die auf Kopf und Herz zielten.“
Der Unterschied zur Intifada, dem Palästinenseraufstand von 1987 bis 1993, der letztlich die Autonomieverträge erzwang, ist offenkundig: Die Israelis haben es jetzt nicht mehr nur mit Steine und Brandflaschen werfenden Jugendlichen zu tun, sondern mit 30.000 regulär bewaffneten Palästinenserpolizisten. Ihnen eilen im Fall des Falles mindestens 10.000 illegal bewaffnete Palästinenser aus den Autonomiegebieten zu Hilfe.
Doch damit nicht genug. Diese Palästinenserpolizisten sind strenggenommen keine Polizisten, sondern Soldaten. Die meisten von ihnen haben Arafat durch die Bürgerkriegskämpfe des Libanon begleitet, sie sind kampferfahren, wenn auch vielleicht nicht so gut ausgebildet wie die Israelis.
Die uniformierten Palästinenser verfügen nicht nur über Sturmgewehre und Maschinenpistolen, sondern auch über Panzerwagen mit aufmontierten Maschinengewehren und über weiteres schweres Gerät. Die Israelis haben all dies Stück für Stück registriert und genehmigt, sie kennen jede Pistolennummer, doch was nützt es ihnen, wenn die Waffen angesichts des in die Krise geratenen Friedensprozesses gegen sie gerichtet werden.
Die Öffnung des umstrittenen Tunnels in der Jerusalemer Altstadt war nur der Anlaß für eine sich seit langem ankündigende Explosion. Worum es geht, formulierte Saeb Arakat, der palästinensische Chefunterhändler, in der Nacht zum Donnerstag glasklar: „Beide haben Verträge unterzeichnet. Wir haben die weiteren Truppenreduzierungen in der Westbank, die sichere Transitstrecke zum Gaza-Streifen, die Freilassung der weiblichen Gefangenen, den Abzug aus Hebron und 34 andere Punkte. Jedesmal, wenn wir das bei den Israelis ansprechen, werden wir behandelt, als bäten wir um milde Gaben. Netanjahu hat vergessen, daß Frieden nicht nur den Israelis nützen soll.
Dies ist unser beider einzige Chance, den Friedensprozeß noch zu retten. In den letzten 100 Tagen haben wir nichts, aber auch gar nichts anderes als Provokationen und leere Versprechungen gehört. Wir haben die Israelis gewarnt, daß dies Gewalt nach sich ziehen muß. Wir haben nicht 70 Jahre gekämpft und uns dann zum Frieden entschlossen, um jetzt mit nichts abgespeist zu werden.“ wps/rtr/dpa
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