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Die große Sehnsucht nach Spiritualität

■ In der „Christengemeinschaft“ sammelten sich die Anthroposophen der DDR. Seit der Wende kämpft die fromme Gemeinschaft gegen ihren Status als Sekte

Pionier bei der FDJ war er nie. Einen Leninorden für gute Leistungen gab's auch nicht. Irgendwann schaute mal ein Vertreter der Schule vorbei, um ihn für die DDR-Jugendorganisation zu rekrutieren. Nebenbei erinnerte der Herr daran, daß es verboten sei, West-Fernsehen zu schauen. Eine unnötige Ermahnung. Im Elternhaus von Michael Fink* und seinen fünf Geschwistern hat es nie eine Glotze gegeben. Fernseher sind tabu bei der „Christengemeinschaft“, zu der die Ostberliner Familie gehört. In der DDR, wo Anthroposophische Gesellschaft und Waldorfschulen verboten waren, versammelten sich die Steineranhänger unter dem Dach der Minigemeinde. Als Sekte verstehen sich ihre Gläubigen nicht.

Gerade mal 100.000 Mitglieder zählen sich weltweit zu der Gemeinschaft, die 1922 unter dem Einfluß Rudolf Steiners als „Bewegung für religiöse Erneuerung“ gegründet wurde. In der DDR gehörten ihr 5.000 Gläubige an. Die „Christengemeinschaft“ will die spirituelle Tradition des Katholizismus wiederbeleben und mit den aufklärerischen Elementen der evangelischen Kirche zu einer zeitgemäßen Synthese – einer „neuen, dritten Kirche“ – vereinigen. Taufe, Konfirmation, Abendmahl, Beichte, Trauung, Priesterweihe und das Bestattungsritual werden als Sakramente gefeiert. Die Predigt spielt eine Nebenrolle. Im Mittelpunkt des religiösen Lebens steht der Kultus. Sein Kernstück ist die „Menschenweihehandlung“, eine Art Abendmahl.

Rudolf Steiner vermittelte 1921 die liturgischen Texte als „Offenbarung der geistigen Welt“ an einen Kreis von Künstlern, Pfarrern und Theologiestudenten. Sie hatten ihn um Impulse für eine moderne Kirche gebeten. An ihrer Spitze stand Friedrich Rittelmeyer, Pfarrer am Deutschen Dom in Berlin. Er erhoffte sich von Steiner den Anstoß für eine Religiosität, die nicht in erstarrten Dogmen steckenbleibt, sondern Zugang zu „höheren Welten“ öffnet.

Sehnsucht nach Spiritualität hat wohl auch Carola Fink*, Krankenschwester und Mutter von Michael, in die Gemeinde geführt. Obwohl sie früher evangelische Theologie studiert hat, fühlte sie sich dem Protestantismus nie richtig zugehörig: „In der evangelischen Kirche war mir alles zu oberflächlich.“ Den Schritt in die „Christengemeinschaft“ machte sie über die Kindertaufe: ein esoterisch angehauchtes Spektakel. Der Priester zeichnet mit Wasser auf die Stirn des Täuflings ein Dreieck, mit Salz auf das Kinn ein Viereck und mit Asche ein Kreuz auf die Brust. Neben der Aufnahme in die Gemeinde wird die Taufe als Inkarnationshilfe für die Seele des Kindes verstanden.

Genau dieser Punkt – die Annahme einer vorgeburtlichen Existenz der Seele – macht es der evangelischen Kirche unmöglich, die „Christengemeinschaft“ anzuerkennen. „Sie ist konfessionsrechtlich betrachtet eine Sekte, weil sie sich mit der Inkarnationslehre auf eine Quelle stützt, die mit dem biblischen Kanon unvereinbar ist“, erklärt Rudi Forstmeier, Beauftragter der evangelischen Kirche in München. Für die Protestanten steht die „Christengemeinschaft“ in einer Reihe mit Scientology Church und anderen religiösen Eiferern. Doch die Anthro- Christen lassen nicht locker. Seit 1990 verhandeln sie mit der evangelischen Kirche, die den unerwünschten Sektenstatus aufheben soll. Bisher ohne Erfolg.

Daß Raphael Fink und seine Geschwister nicht zur DDR-Jugendorganisation gehörten, war keine Maxime der „Christengemeinschaft“. „Wir wollten keine Märtyrer“, erklärt Gerhart Palmer, Pfarrer der ,Christengemeinschaft‘ in Leipzig. Ernsthaften Ärger mit den Parteioberen haben die Antikommunisten nicht bekommen. Denn als Widerstandskämpfer sahen sich die Christen selbst nicht. „Uns ging es mehr um eine klare Position als um die Opposition“, beschreibt Gerhart Palmer das Verhältnis zum sozialistischen Staat. Auch wenn sie ihre Kinder nicht zu den Blauhemden schickten: Die frommen Eigenbrötler wurden von der SED ignoriert. Claudia Becker

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