: Afghanistan unter der Scharia
Die radikal-islamistischen Taliban-Milizen erobern Kabul, exekutieren Expremier Nadschibullah und rufen einen strikt islamischen Staat aus ■ Von Thomas Ruttig
Berlin (taz) – Die Taliban haben ihr Versprechen wahrgemacht. Sie würden nicht eher ruhen, bis sie den Kabuler „Interimspräsidenten“ Burhanuddin Rabbani gestürzt hätten, hatten ihre Anführer seit ihrem erstmaligen Auftauchen im September 1994 angekündigt. Einer ihrer wichtigsten Sprecher und Kommandeur der Kabul- Front, Mullah Bordshan, der am Mittwoch bei den Kämpfen umgekommen sein soll, sagte: „Das einzige, was wir wollen, ist eine islamische Regierung, die sich an den islamischen Gesetzen und islamischen Werten orientiert.“
In der Nacht zum Freitag war es so weit. Die Kämpfer der radikal- islamistischen Bewegung drangen von Osten her in die afghanische Hauptstadt ein und kontrollierten diese laut Berichten von UNO- Vertretern und vor Ort anwesenden Korrespondenten bereits in den frühen Morgenstunden fast vollständig. Die Kämpfer trafen kaum auf Widerstand: Der Oberkommandierende der Regierungstruppen, Ahmad Schah Masud, hatte den „strategischen Rückzug“ befohlen, „um ein Blutbad zu vermeiden“. Die Taliban errichteten Kontrollpunkte an den wichtigsten Straßenkreuzungen.
Bereits kurz nach Mitternacht Ortszeit berichtete die iranische Nachrichtenagentur IRNA über Freudenschüsse auf dem Gelände des eingenommenen Kabuler Präsidentenpalastes. Vereinzelt soll es zu kleineren Schußwechseln gekommen sein. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wurden nicht bekannt. Nach Angaben von Radio Kabul sollen fünfzig Menschen ums Leben gekommen sein. Ein IKRK-Sprecher in Kabul sagte gegenüber CNN, es gebe „viel weniger Opfer als befürchtet“.
Das prominenteste Opfer: Mohammad Nadschibullah, der letzte prosowjetische Präsident des Landes. In der Nacht drangen Augenzeugen zufolge fünf Taliban in das Kabuler UN-Gebäude ein, wo der 49jährige seit seinem Sturz im April 1992 Zuflucht gefunden hatte, und erschossen ihn zusammen mit seinem Bruder. Den Leichnam, der Spuren von Mißhandlung aufwies, hängten sie an einen Laternenpfahl vor den Präsidentenpalast im Stadtzentrum, wo Tausende von Menschen den Anblick der Leiche bejubelten. Nadschibullah war in seiner Zeit als Kabuler Geheimdienstchef Anfang der achtziger Jahre als „Schlächter von Kabul“ bekannt geworden. Von 1986 bis 1992 war er Präsident des Landes. In seiner ersten Funktion hatte er sich den Haß der Mudschaheddin und vieler Afghanen zugezogen. Daran scheiterte auch seine Öffnungspolitik, die er als Staatschef unter dem Einfluß Gorbatschows betrieb.
Über den Verbleib von Präsident Rabbani, von Premier Gulbuddin Hekmatyar und den Mitglieder seiner Regierung war noch nichts bekannt. Sie haben sich offenbar mit Masuds Truppen aus der Stadt abgesetzt, falls sie sich dort während des Taliban-Angriffs überhaupt noch aufgehalten haben. Rabbani soll die letzte Zeit in einem Jagdschloß des ehemaligen Königs außerhalb von Kabul zugebracht haben.
Als erste Amtshandlung kündigten die Taliban die Einführung der Scharia, des islamischen Rechts, an. Davon sind vor allem die Frauen betroffen. Sie müssen sich strikt verschleiern und werden völlig aus dem öffentlichen Leben verbannt. In ihrem Herrschaftsbereich schlossen die Taliban Mädchenschulen genauso wie Ausbildungsstätten für Krankenschwestern. Ihre strenge Auslegung der Scharia schließt drakonische Strafen wie öffentliche Hinrichtungen und Amputationen ein. Ehebrecher werden gesteinigt, Mörder durch Angehörige der Mordopfer mit der Waffe ihres Verbrechens getötet. Dieben werden Gliedmaßen amputiert, politische Gegner exekutiert.
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