Schritt für Schritt zum Arbeitskampf

■ Der Konflikt um die Kürzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit spitzt sich zu. 23.000 Beschäftigte bei Daimler blieben Sonderschicht fern. Geplante Kürzungen sind rechtlich umstritten. ÖTV-Chef Mai warnt vor Großkonflikt

Berlin (dpa/AP/taz) – Im Streit um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall setzen die Tarifpartner auf Konfrontation: Während am Samstag 23.000 Beschäftigte bei Daimler-Benz die Arbeit verweigerten, sagten die Metallarbeitgeber an, heute alle Tarifverträge fristgerecht zum Ende des Jahres zu kündigen. Bei vorgezogenen Tarifverhandlungen sollen laut Gesamtmetallpräsident Werner Stumpfe nicht nur die Kürzung der Lohnfortzahlung, sondern auch das Urlaubs- und Weihnachtsgeld auf den Tisch kommen.

Nach der Ankündigung des Daimler- Benz-Konzerns, bereits ab morgen für kranke Beschäftigte nur noch 80 Prozent des Gehalts zu zahlen, standen am Samstag in drei Mercedes-Werken die Bänder still. Wegen des Wegfalls der Sonderschichten konnten schätzungsweise 2.000 Autos nicht gebaut werden. Nach den Protesten ist das Klima zwischen Unternehmensspitze und Gesamtbetriebsrat aufs Höchste gereizt: Die Konzernleitung sprach gestern von „rechtswidrigen Streiks“, die Arbeitnehmervertretung von „Rechtsbruch“.

Der Gesamtbetriebsrat hat die rund 220.000 inländischen Beschäftigten aufgerufen, am Dienstag geschlossen zu protestieren. Im größtem Mercedes-Werk in Sindelfingen hat der Betriebsrat die Vereinbarung über Sonderschichten für das zweite Halbjahr 1996 bereits gekündigt. Daimler-Chef Jürgen Schrempp verteidigte seinen Kurs: Die Kosten für die Lohnfortzahlung in seinem Konzern lägen bei 600 Millionen Mark jährlich. „Das ist eindeutig zu hoch“, sagte er Focus.

Die Metallarbeitgeber hingegen haben der Gewerkschaft erneut vorgezogene Tarifverhandlungen vorgeschlagen. Die notwendige Kündigung der regionalen Tarifregelungen werde in allen westdeutschen Tarifgebieten spätestens heute erfolgen. Werner Stumpfe betonte, daß die Unternehmen das neue Entgeltfortzahlungsgesetz auf der Basis der geltenden Tarifverträge anwenden und sich erpresserischem Druck nicht beugen würden.

Über die Frage der Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Arbeitgeber herrscht offenbar auch Uneinigkeit in der Bonner Koalition. Der Spiegel berichtete von einem vertraulichen Papier des Kanzleramts, des Arbeits- und Justizministeriums, wonach sie damit gegen geltendes Recht verstießen, solange bestehende Tarifverträge nicht geändert würden. Ein Sprecher des Arbeitsministeriums sagte dazu, die Bundesregierung sei immer davon ausgegangen, daß die Lohnfortzahlung für 80 Prozent der ArbeitnehmerInnen per Tarifvertrag abgesichert sei. Dagegen nannte es der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Hermann Otto Solms, in der Bild am Sonntag nur folgerichtig, wenn die Betriebe das Gesetz in die Tat umsetzen wollten, um Arbeitsplätze zu sichern. Die IG Metall will heute ein Rechtsgutachten zur Lohnkürzung vorstellen.

Dieser Streit ist auch das zentrale Thema beim gestern eröffneten Kongreß der ÖTV. Der Vorsitzende Herbert Mai hat einen harten Kampf aller Gewerkschaften angekündigt: „Wer die Hand anlegt an unsere Tarifverträge, insbesondere die für uns bedeutende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der riskiert einen großen gesellschaftlichen Konflikt“, sagte Mai. JK Bericht Seite 4