: Die große Konfrontation
In Afghanistan stehen sich jetzt die Taliban-Milizen und der Warlord Dostam gegenüber – der innere Konflikt ist bipolar geworden ■ Von Thomas Ruttig
Am Pandschir-Tal haben sich in den achtziger Jahren schon die sowjetischen Truppen die Zähne ausgebissen. Jetzt sitzt Ahmed Schah Massud, der sich damals den Titel „Löwe von Pandschir“ erwarb, wieder dort. Diesmal hat er es mit einheimischen Gegnern zu tun: mit den extrem-islamistischen Taliban-Milizen. Sie wollen die Reste der einstigen „Regierungstruppen“ vernichten, die Ende September vor ihnen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul flohen und deren Oberbefehlshaber Massud war. Verhandeln wollen die Taliban nicht mit ihm. Entweder Massud ergibt sich oder er wird „liquidiert“, haben sie erklärt.
Doch Massud hat sich gut verschanzt. Seine Kämpfer haben mit Sprengstoff künstliche Erdrutsche geschaffen, die die Zufahrtsstraße für die Taliban versperren. Artillerie feuert auf die Angreifer, die erst zwei Hügel am schmalen Eingang des einst fruchtbaren, aber seit der sowjetischen Besetzung mit rostenden Panzerwracks übersäten Tals eingenommen haben. Trotzdem hat sich Massuds Lage seit dem Kampf gegen die Sowjets beträchtlich verschlechtert. Die Infrastruktur, die über den Nordausgang des Tales für Nachschub aus Pakistan sorgte, existiert nicht mehr. Pakistan unterstützt heute die Taliban. Und die haben das Tal möglicherweise schon am anderen Ende dichtgemacht.
Nominell kontrollieren die Truppen Massuds noch drei Provinzen im Nordosten Afghanistans am Vierländereck mit Pakistan, China und Tadschikistan. Aber das hat nur noch statistische Bedeutung. Sie setzen deshalb auf die Unterstützung des usbekischen Warlords Abdurraschid Dostam, der sieben Nordprovinzen ganz und drei weitere teilweise kontrolliert. Er ist der letzte ernsthafte Gegner der Taliban. Anfang der Woche reagierte er, wenn auch indirekt, erstmals auf die Avancen Massuds. Er ließ den Taliban mitteilen, er würde „jeden bedrängten Landsmann“ unterstützen. Die Bataillone des ebenfalls geflohenen letzten islamistischen Kabuler Premiers Gulbuddin Hekmatjar sind bereits völlig zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Wer nicht gegen die Taliban gefallen oder zu ihnen übergelaufen ist, ist längst mit Massuds Einheiten verschmolzen. Hekmatjar hält sich wahrscheinlich ebenfalls im Pandschir- Tal auf oder ist weiter nach Norden in die Provinz Kunduz geflohen, wo sein Kharoti-Stamm siedelt. Ein klägliches Ende des einstigen Favoriten Pakistans und der CIA.
Afghanistan ist damit heute zweigeteilt. Den Löwenanteil, die südlichen zwei Drittel seines Territoriums und damit etwa die Hälfte der Bevölkerung, sicherten sich die extrem-islamistischen Taliban. Ihr Herrschaftsbereich südlich der Hochgebirge Pamir und Hindukusch ist weitgehend identisch mit dem Siedlungsgebiet der Paschtunen, der zahlenmäßig stärksten Nationalität Afghanistans. In Kabul und insbesondere in der westafghanischen Stadt Herat gelangen den Taliban auch Einbrüche in tadschikische Siedlungsgebiete. Die Paschtunen bilden die wichtigste ethnische Basis der Taliban-Bewegung. Bestehend aus den Stammeskonföderationen der Durrani und der Ghilzay sowie Hunderten Einzel- und Unterstämmen betrachten sie sich seit der Staatsgründung 1747 traditionell als das „Staatsvolk“ Afghanistans.
Aber homogene Siedlungsgebiete gibt es kaum. Afghanistans ethnische Karte gleicht eher einem Flickenteppich. Unter den Paschtunen leben andere Minderheiten, die größte sind die Persisch sprechenden Tadschiken, die vor allem in den Städten leben. Zahlenmäßig folgen die turksprachigen Usbeken und Turkmenen sowie die einen persischen Dialekt sprechenden Hazara, die sich zum schiitischen Zweig des Islam bekennen.
Durch den erfolgreichen Widerstandkampf gegen die sowjetische Besatzung (1979–89) wuchs das Selbstbewußtsein der nichtpaschtunischen Ethnien, die bis dahin die Herrschaft der Paschtunen mehr oder weniger unwidersprochen hinnahmen. Heute fordern sie festgeschriebene Minderheitenrechte und eine föderale Neustrukturierung des Landes.
Wortführer dieser Tendenz ist der afghanische Usbeke und General Abdurraschid Dostam, der weite Teile des Nordens kontrolliert. Sein Gebiet reicht von der Grenze zu Turkmenistan im Westen bis an den Fuß des Pamir im Osten. Hier leben fast geschlossen die afghanischen Usbeken und Turkmenen, aber auch Tadschiken und Paschtunen. Auf die Seite der „Usbeken-Miliz“ Dostams, der sich 1992 erhebliche Teile der einstigen prosowjetischen Regierungstruppen samt ihrer Ausrüstung anschlossen, stellten sich auch andere ethnische wie religiöse Minderheiten, so die Hazara und die Ismailiten. Mit diesen Verbündeten soll Dostam über 150.000 Bewaffnete sowie eine stattliche Anzahl von Kampfflugzeugen, Hubschraubern und Panzern verfügen. Nachschub erhält er trotz wiederholter Dementis aus Usbekistan.
Die südliche Grenze des Dostam-„Reiches“ bildet der Hindukusch, der außer auf unwegsamen Pässen nur über die Salang-Route zu überwinden ist. Deren Nadelöhr ist der gut zwei Kilometer lange Salang-Tunnel, den sowjetische Ingenieure und afghanische Arbeiter 1964 fertigstellten. Doch mit ein paar Minen kann er leicht geschlossen werden. Noch, so erklärte ein Dostam-Sprecher vor wenigen Tagen, sei er offen: für Zivilisten. Er kündigte an, daß seine Truppen zurückschlagen würden, wenn die Taliban angriffen. Doch die haben im Moment mit Massud zu tun und wissen, daß ein Umgehen des Tunnels erst wieder im Frühjahr möglich sein wird. Schon ist auf den 3.000 Meter hohen Bergen am Salang der erste Schnee gefallen, bald wird der Salang-Paß unter meterhohem Schnee liegen.
Zwischen den beiden Hauptfraktionen halten sich weitere, kleinere Splittergruppen. Westlich von Kabul, im unwegsamen und strategisch wenig wichtigen Hochland von Zentral-Afghanistan, dem Hazaradschat, halten Gruppen der Hazara-Minderheit Teile der Provinzen Bamian und Wardak. Die stärkste von ihnen ist die „Partei der islamischen Einheit“ (Hezb-e Wahdat-e Islami). Aber auch hier erzielten die Taliban bereits Einbrüche. Im Frühsommer brachten sie die Provinzhauptstadt Chaghtscharan, auf halbem Wege zwischen Herat und der Hauptstadt Kabul, in ihre Gewalt. Ein Wahdat-Vertreter in der Bundesrepublik kündigte an, die Hazara würden geschlossen Dostam unterstützen, wenn die Taliban den Hindukusch überquerten. Noch immer empfänden die Hazara „Wut“ über die Ermordung des Wahdat-Parteichefs Abdul Ali Mazari durch die Taliban im letzten Jahr.
Ebenfalls mit Dostam verbündet ist die schlagkräftige Miliz des Seyyed Dschafar Naderi. Diese Truppe von mehreren tausend Angehörigen der ismailitischen Glaubensrichtung des Islam kämpfen bereits seit den 80er Jahren an der Seite Dostams. Bis 1992 standen sie gemeinsam auf der Seite des von den Taliban umgebrachten Ex-Präsidenten Nadschibullah gegen die Mudschaheddin. Sie verteidigen seit damals die strategisch bedeutende Provinz Baghlan nördlich des Salang.
Unklar ist hingegen die Situation der wohl noch mehreren hundert arabischen Mudschaheddin, die entweder für eine der afghanischen Fraktionen oder auf eigene Faust den heiligen Krieg gegen die Sowjets führten. Ihre Hochburg in Ostafghanistan haben inzwischen die Taliban besetzt. Dort hielt sich auch der saudische Dissident Usama bin Laden auf, der in Ungnade gefallene einstige Chefkoordinator Riads für die Unterstützung der afghanischen Mudschaheddin. Die Taliban sollen dort inzwischen schon mehrere Ausbildungslager für ausländische Islamisten geschlossen haben, meldete die britische Rundfunkanstalt BBC am Wochenende.
Die Taliban wie auch Dostams „National-islamische Bewegung“ vertreten gesamtafghanische Ansprüche. Die Taliban wollen in der paschtunischen Staatsvolk-Tradition das ganze Land regieren. Das ließe sich allerdings auch anders als militärisch durchsetzen: durch Verhandlungen. Sie könnten Dostam beispielsweise die von ihm gewünschte weitgehende Autonomie einräumen und dafür die territoriale Integrität Afghanistans bewahren. In den letzten Tagen haben sie denn auch ihre Drohungen durch Angebote ersetzt.
Auch der in der Sowjetunion ausgebildete Fallschirmjäger und einstige Kommandeur der Elitetruppen Nadschibullahs, Dostam, hat die Einheit des Landes nie in Frage gestellt. Seine „Ministerien“ und Konsulate firmieren konsequent als „zeitweilige Außenstellen Kabuls“.
Attraktiv ist für viele AfghanInnen aber besonders die relative Liberalität des Dostam-Regimes. Frauen und Mädchen dürfen arbeiten und Schulen oder die „Balkh-Universität“ besuchen. Im Dostam-Gebiet ist die einzige Richterin Afghanistans tätig, auch der Visa-Abteilung im „Außenministerium“ steht eine Frau vor. Deshalb flüchteten sich schon viele ehemalige Beamte des prosowjetischen Regimes unter Dostams Schutz. Hochrangige Vertreter der einstigen sozialistischen Regierungspartei, der „Demokratischen Volkspartei“, sollen zum engeren Kreis um Dostam gehören.
Zwischen Dostam und den Taliban existiert nur ein Problem: Sie mißtrauen einander zutiefst, auch wenn Dostam schon früh Kooperationsmöglichkeiten signalisierte. Im Sommer 1995 bombten seine Flugzeuge das von einem Verbündeten Massuds beherrschte Herat für die Taliban sturmreif.
Trotzdem muß er vorsichtig sein. Die Taliban haben seine Vergangenheit an der Seite Nadschibullahs nicht vergessen und sehen in ihm einen „Kommunisten“. Was das bedeutet, zeigt das Schicksal des gehängten Ex-Staatschefs. Ist seine Macht erst einmal gebrochen, könnte ihm das gleiche Schicksal drohen. Also wird er alles daran setzen, die Taliban mit Verhandlungen zu beschäftigen und sie so lange wie möglich von seinem Gebiet fernzuhalten. Im Notfall hat er es allerdings nicht weit – die Grenze zu seinen Verbündeten in Usbekistan ist nahe.
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