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Der unerwartete Abschied vom „roten Wien“

■ In der Bundeshauptstadt verlor die Sozialdemokratie ihre absolute Mehrheit

Das rote Wien, das Wien des sozialen Wohnungsbaus und der organisierten Arbeiterschaft – es gehört der Vergangenheit an. Bei den gleichzeitig mit den EU-Wahlen abgehaltenen Landtagswahlen in der Bundeshauptstadt verlor die SPÖ ihre absolute Mehrheit. Die SPÖ hatte sie, unterbrochen nur durch das Sonderregime im Ständestaat ab 1934 und den Anschluß Österreichs (1938–1945) an das Dritte Reich, seit dem Untergang der Monarchie gehalten.

Bürgermeister Michael Häupl hatte zwar mit dem Verlust der absoluten Mehrheit gerechnet, daß seine Partei aber 10 von 52 Mandaten verlieren und unter die 30-Prozent-Marke rutschen würde, hätte er auch in seinen schlimmsten Alpträumen nicht befürchtet. Sonst hätte er nicht vollmundig behauptet, er stünde als Bürgermeister nur dann zur Verfügung, „wenn ein Vierer vor dem Ergebnis steht“. Noch in der Wahlnacht ließ er aber wissen, daß er keinen Grund zum Rücktritt sehe, schließlich sei die SPÖ ja stärkste Partei geblieben und außerdem, so Häupl: „Der Job macht mir ja Spaß.“

In welchem Maße das gute Abschneiden der ÖVP bei den EU- Wahlen der Persönlichkeit der Kandidaten zu verdanken ist, wurde durch das Wiener Ergebnis dramatisch unterstrichen. Unter dem blassen Bernhard Görg verlor die Partei fast drei Prozentpunkte und 3 von 18 Sitzen. Die FPÖ konnte sich hingegen auch in der Bundeshauptstadt steigern und wird künftig 30 statt bisher 23 Mandatare von 100 im Stadtrat stellen.

Daß die Grünen in einigen Bezirken zweistellige Ergebnisse einfuhren und dort in der Altersgruppe der 30- bis 50jährigen sogar stärkste Partei wurden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Traum des Spitzenkandidaten Peter Pilz von einer rot-grünen Koalition geplatzt ist. Mit ihren sieben Mandaten fehlt den Grün-Alternativen die Kraft zum Königsmacher. Eine Ampelkoalition unter Beiziehung des Liberalen Forums ist wegen prinzipieller Unterschiede in der Wohnungspolitik wenig wahrscheinlich. So wird es wohl wie auf Bundesebene zu einer Koalition mit der verbrauchten ÖVP kommen, deren Klientel vor allem in der Kulturpolitik konservative Akzente sehen will.

Die Neuorientierung in der Arbeiterschaft wurde dürch die jüngsten Umfragen bestätigt: 50 Prozent der Proletarier wählen inzwischen FPÖ, die mit ihrer deftigen Kritik an realen Mißständen und an der Parteibuchwirtschaft der Regierungsparteien zur neuen protestorientierten Arbeiterpartei geworden ist.

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