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Exterritoriale Bildungsstätte

■ Eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek holt „300 Jahre Akademische Bildungstradition in Bremen“ aus dem Archiv

Sie küßten sich und schlugen sich, die Studenten des Gymnasium Illustre in Bremen, jenes Vorläufers der heutigen Universität, die gerade mal 25 Jahre alt ist. Ausschweifung, Duelle, Degentragen, Alkoholgenuß, Sachbeschädigung – Delikte gab's genug, die sich die Gymnasiasten zuschulden kommen ließen. Die Stadt war dagegen machtlos: Das Gymnasium illustre war gewissermaßen exterritoriales Gelände mit eigener Jurisdiktion. Daß Bremen drei Jahrhunderte lang Zentrum akademischer Bildung war, in das Studenten – selbstverständlich nur Männer – aus den Niederlanden, Polen, Frankreich oder Böhmen kamen, ist weithin unbekannt. Höchstens jeder zehnte Immatrikulierte war Bremer.

Mit dem Gymnasium illustre, 1610 aus der 1528 gegründeten Lateinschule hervorgegangen, im damaligen Katharinenkloster beheimatet und ruhmreiches Symbol akademischer Bildungstradition, befaßt sich eine Ausstellung, die jetzt in der Staats- und Universitätsbibliothek zu sehen ist. Wobei der Zusatz Staats-bibliothek von Interesse ist. Denn die Magazinbestände der Bibliothek umfassen weit mehr als nur die Bücher, die seit Unigründung 1971 angeschafft wurden. 300.000 Bände verzeichnete die Bibliotheca bremensis, konzipiert als Universalbibliothek, die 1660 im Katharinenkloster eingerichtet wurde, zur Hochzeit. Alle zwei Wochen stand sie zwei Stunden lang für alle offen. Ein Drittel der Bücher ging im Zweiten Weltkrieg verloren, 60.000 lagern als Kriegsbeute in russischen Archiven, doch der ansehnliche Rest ist im Bestand der Staatsbibliothek aufgegangen. Was in der Schau zu sehen ist, stammt denn auch fast vollständig aus den hauseigenen Magazinen: Folianten aus dem 17. Jahrhundert, gespickt mit – lateinischen – Anmerkungen gelehriger Schüler. Großformatige Lehrbücher in theoretischer Physik, Vorlesungsverzeichnisse und Originaldokumente jener Dekrete, die verhindern sollten, daß, siehe oben, durch das forsche Treiben der Studenten zuviel zu Bruch ging in Bremen – moralisch wie materiell.

Träger des Gymnasium Illustre war die „Wittheit“, damals noch Bezeichnung für die Gesamtheit des Stadtrates, wie Thomas Elsmann, Historiker an der Uni Bremen, erklärt. „Das Gymnasium war zwar eine Einrichtung der Stadt, aber mit wenig Bindung an sie“, sagt Tromas Elsmann. Trotzdem: An der calvinistisch geprägten Akademie mit wissenschaftlicher Strahlkraft im gesamten nordfriesischen Raum konnten auch schlechter Gestellte studieren. Eine „Kommunität“ genannte Institution vergab das BAföG der frühen Jahre; Stipendien gab es schon seit dem Mittelalter, und Mensa hieß auch 1620 schon die Futterkrippe für Studiosi. Über den Niedergang des Gymnasium illustre bis 1820 gibt es nur Theorien: Die Lehre war, verglichen mit anderen neu entstandenen Unis wie Göttingen oder Halle, verstaubt. Reformstau. Den Status einer Universität bekam das Gymnasium nie, dazu bedurfte es des kaiserlichen Privilegs. Und das kostete Geld. Schon das Linzer Diplom war teuer genug, wird sich der Rat gesagt haben.

Alexander Musik

Ausstellung bis 14.12. in der Universitätsbibliothek, Mo.-Fr. 9-20, Sa. 9-13 Uhr.

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