: Islamistisch und rechts?
■ Für rund 68 Prozent der befragten türkischen Jugendlichen ist eine starke türkische Nation wichtiger als Demokratie. Ein Gespräch mit dem Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer
taz: Sie haben sich in der Vergangenheit viel mit rechtsextremistischen Einstellungen bei deutschen Jugendlichen befaßt, jetzt befassen sie sich mit islamistisch- fundamentalistischen Orientierungen bei türkischen Jugendlichen. Weshalb?
Wilhelm Heitmeyer: Mit unserer aktuellen Studie wollen wir darauf hinweisen, daß Jugendliche in dieser Gesellschaft in eine immer größer werdende Spannung hineingeraten. Jede Gruppe hat dabei ihre eigenen Reaktionsweisen. Und zu den Reaktionsweisen der türkischen Jugendlichen gehört, daß sich ein Teil von ihnen islamisch-fundamentalistischen Positionen und Organisationen annähert. Wir wollen nichts weiter, als auf gesellschaftliche Problemlagen und mögliche Eskalationen hinweisen.
Als Sie die rechtsextremistischen Orientierungen bei deutschen Jugendlichen erforschten, wollte in der Politik die Ergebnisse jahrelang niemand so richtig ernst nehmen. Erst als Anfang der neunziger Jahre rechtsradikal und rassistisch motivierte Gewalt nicht mehr ignoriert werden konnte, waren Sie ein gefragter Mann. Sind die bisherigen Reaktionen zu den Einstellungen deutsch-türkischer Jugendlicher andere?
Die Reaktionen sind derzeit insofern positiv, als die Ergebnisse nicht skandalisiert werden. Allerdings merken wir nun, daß islamische Gruppen versuchen, aus der Studie einen Skandal zu machen, indem sie behaupten, sie sei islamfeindlich.
In den Reaktionsweisen auf die Ergebnisse gibt es aber auch eine Gemeinsamkeit zu den früheren Studien. Nun wird darauf hingewiesen, daß man rechtsextremistische und islamisch-fundamentalistische Orientierungen nicht vergleichen könne, daß die Probleme des islamisch-fundamentalistischen Zusammenhangs doch nur ein jugendspezifisches Aufwallen sei, das man nicht ernst nehmen müsse.
Welche Gruppen üben diese Kritik?
Sie kommt derzeit aus dem Islamarchiv in Soest. Ich habe den Eindruck, die Studie soll zur Binnenintegration instrumentalisiert werden. Es gibt eine Verkehrung der Situation. Eigentlich hätte man erwarten können, daß die Studie von interessierter deutscher Seite instrumentalisiert wird, aber das ist gar nicht der Fall. Das könnte man nun dramatisch dahingehend interpretieren, daß auf deutscher Seite das Interesse an Migranten und Jugendlichen generell relativ gering ist. Beratungen in parlamentarischen Gremien von Landtagen zeigen allerdings, daß auch politische Gruppen, von denen man erwartet hatte, daß sie aus den Ergebnissen ein Ausländerthema machen, ein konstruktives Interesse daran zeigen.
Woran liegt das?
Daran, daß die These der Studie ganz deutlich ist, und die empirischen Daten zeigen: Je größer die Desintegration der türkischen Jugendlichen in sozialer, politischer und beruflicher Hinsicht, desto schärfer ist die islamisch-fundamentalistische Orientierung. Wenn diese These stimmt, dann ist die Entwicklung zunächst ein Problem der Mehrheitsgesellschaft und natürlich ein Problem der Türkischen Gemeinde.
Wie haben Sie bei Ihrer Untersuchung den Inhalt „islamisch- fundamentalistische Orientierung“ definiert?
Die persönliche Religiosität ist für uns kein Thema. Uns interessiert der Übergangsbereich, dort, wo Überlegenheitsansprüche mit Religion verknüpft sind. Im Islam, zumindest dem, den wir in der türkischen Variante vor uns haben, geht es darum, Religion und Politik eng miteinander zu verknüpfen. Diese Überlegenheitsansprüche sind ein Bindeglied zur nächsten Stufe, zu religiös motivierter Gewaltbereitschaft. Die Gewaltbereitschaft ist zwar noch nicht die Gewalttätigkeit selbst, aber sie bekommt dann einen politischen Charakter, wenn sich Jugendliche mit solch aufgeheizten Positionen in der Nähe von solchen Organisationen wie den Grauen Wölfen und Milli Görüș bewegen. Diesen Gesamtzusammenhang muß man sehen und sich nicht den einzelnen Jugendlichen herausgreifen und ihn als Problem darstellen. Und da geht es speziell um die Frage, wie möglicherweise Eliten in den Gruppen diese Suche der Jugendlichen nach Stärke instrumentalisieren. Das ist das eigentliche Problem. Uns hat vor allem besorgt gemacht, daß für rund 68 Prozent der Befragten eine starke türkische Nation wichtiger ist als eine Demokratie.
Wenn Sie diese Ergebnisse mit Ihren Befragungen deutscher Jugendlicher vergleichen, gibt es da in der Gesamtpopulation signifikante Unterschiede? Und wie sieht es bei vergleichbaren sozialen Milieus aus?
Zu letzterem haben wir bislang keine Informationen. Was den Vergleich mit deutschen Jugendlichen betrifft, haben wir nur Vergleichsdaten, die zu anderen Zeiten erhoben wurden. In Law-and- order-Positionen zum Beispiel, daß man an den vielen Kriminellen sehen könne, wie verweichlicht die Demokratie sei; da gibt es keine gravierenden Unterschiede. Die Unterschiede machen sich an der Frage der Religion fest, schon deshalb, weil für 68 Prozent der befragten türkischen Jugendlichen der Islam eine sehr große Bedeutung hat, während Religion bei deutschen Jugendlichen fast überhaupt keine Rolle mehr spielt. Interview: Eberhard Seidel-Pielen
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