: „Eine Schande, daß die Tochter auszieht“
■ Weil eine junge Türkin sich nicht fügen wollte, wurde sie vom Vater erstochen
Vom Bild des aufbrausenden Patriarchen, der seine Frau und neun Kinder mit Schlägen jahrelang in Angst versetzte, ist nichts übriggeblieben. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, das Gesicht in die Handflächen gegraben, saß der 55jährige Süleyman T. gestern auf der Anklagebank des Landgerichts. Am 14. Juli dieses Jahres hat der Mann seine 19jährige Tochter Seva unter der Gleimbrücke am Prenzlauer Berg mit sieben Messerstichen getötet.
Süleyman T. muß sich seit gestern wegen Mordes vor Gericht verantworten. In ähnlichen Fällen, wenn es um das verletzte Ehrgefühl von türkischen Angeklagten geht, lautet der Vorwurf meist Totschlag. Nicht so in diesem Prozeß. Der Staatsanwalt geht davon aus, daß der 19jährigen Seva zwar die Gewalttätigkeit ihres Vaters bekannt, sie in der Tatnacht aber völlig arglos war. Süleyman T. war verbittert darüber, daß seine Tochter zwei Monate zuvor einfach ausgezogen war und seither bei einer Freundin lebte. In der Tatnacht wartete er angetrunken vor dem Schnellrestaurant, wo seine Tochter bis zwei Uhr morgens arbeitete. Nachdem die junge Frau und deren Freundin zu einem Bekannten ins Auto gestiegen waren, zog er sie grob aus dem Wagen. „Es war wie Abführen“, berichtete gestern die Freundin. Im Gleimtunnel stach der Vater dann zu.
Die Tränen mit einem Taschentuch trocknend, sagte der Angeklagte, er habe seine Tochter nur nach Hause bringen wollen. Seine türkische Bekanntschaft habe schlecht über das Kind geredet, „jeder sagte, die treibt sich herum wie eine Hure“. Auf dem Heimweg habe ihn Seva mit den Worten „Du kannst mich mal am Arsch lecken“ provoziert. „Als sie dieses böse Wort sagte, habe ich die Beherrschung verloren.“ Natürlich habe er Seva geliebt. Seine Kinder seien für ihn wie „Blumen in einem Blumengarten“.
Der Metallarbeiter Süleyman T., der 1970 aus Türkei nach Deutschland gekommen war, ist arbeitslos. Für den Lebensunterhalt der großen Familie sorgen seine Frau als Putzkraft und die berufstätigen Kinder. Süleyman T., in seiner Autorität gekränkt, trank zunehmend Alkohol und führte zu Hause ein Schreckensregime. Er bedrohte seine Frau mit einem Messer. Nachdem Seva ausgezogen war, sei der Vater gänzlich außer Rand und Band gewesen. Er wollte dies nicht hinnehmen, sagte sein Sohn Mustafa gestern. „Aber das er sie töten würde, damit hat niemand gerechnet.“
Die Familie hat mit dem Angeklagten gebrochen. Seine Frau würdigte ihn gestern keines Blickes. Natürlich sei es für einen türkischen Vater „eine Schande, daß die Tochter nicht mehr zu Hause wohnt“, sagte die Mutter. Aber „wir leben doch nicht mehr in der Türkei, sondern in Berlin“. Unter Tränen flehte die Frau das Gericht an, es möge ihren Mann nur ja im Gefängnis lassen. Der Prozeß wird am Dienstag fortgesetzt. Plutonia Plarre
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