piwik no script img

Den Strukturwandel zahlt die Belegschaft

Serie „Industriestadt Berlin auf dem Prüfstand“ (Folge 3): Siemens rationalisiert, baut die Belegschaft weiter ab und lagert Produktionen aus. Die Hälfte der Berliner Siemens-Erzeugnisse sind weniger als fünf Jahre auf dem Markt  ■ Von Hannes Koch

Bald steigt in Siemensstadt eine große Sause. Denn 1997 jährt sich zum 150. Mal die Gründung des Konzerns, der dem Stadtteil seinen Namen gab. 1847 eröffneten Werner von Siemens und Johann Georg Halske ihr Unternehmen, um den gerade entwickelten elektromagnetischen Zeigertelegraphen zu produzieren – eine Revolution der Kommunikationstechnologie. Schon jetzt beschäftigen sich Dutzende von MitarbeiterInnen damit, das Festprogramm auf die Beine zu stellen. Man wird von Ausstellung zu Kongreß, von Empfang zu Bankett eilen.

Auch der Betriebsrat freut sich auf die Party, sieht der Zeit danach aber mit einiger Unruhe entgegen. „Manche befürchten“, sagt Georg Nassauer, Sprecher der Berliner Siemens-Betriebsräte, „daß es dann noch einmal richtig runtergeht.“ Er meint die Zahl der Arbeitsplätze. Unternehmenssprecherin Ilona Thede ist aufgrund ihrer Funktion etwas optimistischer, kann aber auch keine Entwarnung geben: „Der Abbau geht weiter. Aber hoffentlich wird das Tempo langsamer.“ Sie ergänzt: „Wir brauchen immer weniger Menschen.“

Es ist nicht so, daß es dem größten Elektrokonzerns Europas schlechtgeht. Über zwei Milliarden Mark Gewinn standen nach dem Geschäftsjahr 1994/95 unter dem Strich. Doch das kann mehr werden: mit weniger Beschäftigten, der schnelleren Entwicklung neuer Produkte und einer gewinnbringenden Arbeitsorganisation. Vor allem zwei Ziele zu erreichen bemüht sich das Management. Die Reduzierung der Kosten und die Konzentration auf innovative Produkte, deren Verkauf viel Geld abwirft, stehen im Vordergrund.

Die Berliner Werke des Konzerns sind von der Umstrukturierung, die seit einigen Jahren im Gange ist, besonders betroffen. Denn an der drittgrößten Betriebsstätte von Siemens weltweit ist die sogenannte „Fertigungstiefe“ traditionell besonders hoch. Sowieso verfolgte das Unternehmen lange Zeit die Strategie, lieber alles selbst herzustellen, anstatt Teile von anderen Firmen einzukaufen. Doch in Berlin trieb der industrielle Ganzheitsanspruch besondere Blüten. Stecker, Maschinengehäuse und Spulen, die anderswo viel billiger zu bekommen waren, bauten die ArbeiterInnen hier exklusiv für Siemens. Schließlich brachten auch diese Produkte lukrative Berlinsubventionen der Bundesregierung ein.

Das Bestreben, derartige Produktionen langsam, aber sicher loszuwerden, zeigt sich in den kontinuierlich sinkenden Beschäftigtenzahlen. Arbeiteten 1985 noch 24.000 Leute in den Werken, waren es am Ende des Geschäftsjahres 1994/95 noch 19.500. Seitdem sind weitere 1.000 Arbeitsplätze verschwunden. Und Betriebsrat Georg Nassauer schätzt, daß es in mindestens diesem Tempo auch weitergeht.

Als eine Kernstrategie im Strukturwandel gilt die Auslagerung von Teilen der Produktion. Im Meßgerätewerk in Siemensstadt wurden unlängst wieder 250 Beschäftigte ausgegliedert und einer externen GmbH unterstellt, die einstweilen noch Siemens gehört. Findet sich aber ein unabhängiger Investor, soll die Produktion von Meßgeräten für die Spannungs- und Frequenzmessung verkauft werden.

Der Konzern kann damit Kosten für Verwaltung und Infrastruktur sparen und die Produkte vermutlich später zu einem geringeren Preis einkaufen, als er sie selbst hätte herstellen können. Denn auf externe Zulieferer läßt sich Druck ausüben. Auf großen brachliegenden Flächen in Siemensstadt versucht das Unternehmen zur Zeit, unter anderem Zulieferfirmen in unmittelbarer Nähe des Werkes anzusiedeln. So ließe sich der Vorteil der räumlichen Nähe bei sinkenden Kosten beibehalten.

Vielfältige Produktionen mit mehreren hundert Beschäftigten sind bereits diesen Weg gegangen. Positiv betrachtet, gibt Siemens damit Zulieferfirmen Arbeit. „Wir brauchen die Mittelständler, weil wir nicht alles selbst machen können“, sagt Wolfram Martinsen, Vorstand des Bereichs Verkehrstechnik. Allerdings beschäftigen die neuen Firmen mit derselben Aufgabe auch weniger Leute als der Konzern zuvor.

Eine andere Variante derselben Strategie ist die Auslagerung der Fertigung in eigene Werke – jedoch an Orte, an denen billiger produziert werden kann. Wiederum aus dem Meßgerätewerk wurden so 200 Arbeitsplätze ins französische Elsaß verschoben. Aderlaß hat auch das Kabelwerk in Siemensstadt zu verbuchen. Ein Teil der Herstellung von Nieder- und Mittelspannungskabeln wandert nach Schwerin, wo der Konzern ein DDR-Werk gekauft hatte. Dort sind die Löhne geringer. Dieser Vorteil ist noch größer in der Slowakei und Ungarn, wohin ein anderer Teil der Kabelfertigung verlagert wird.

Ein zukünftiges Problem könnte den Berliner Siemensianern aus dem Aufbau einer neuen Waschmaschinen-Produktion in Nauen erwachsen. Das Werk auf der grünen Wiese steht in direkter firmeninterner Konkurrenz zu Bosch-Siemens-Hausgeräte in Gartenfeld. Noch sagt die Firmenleitung, daß die Herstellung an beiden Orten gesichert sei, aber Fakt ist: Das Werk Nauen ist billiger. Denn die dortige Tochterfirma ist nicht Mitglied im Arbeitgeberverband. Der Tarifvertrag gilt damit nicht. „Die Beschäftigten haben Einzelverträge und verdienen weit unter Tarif“, sagt Arbeitnehmervertreter Georg Nassauer. „Das führt irgendwann zum Abbau von Arbeitsplätzen in Berlin.“

Neben der Kostenreduzierung wird als weiteres Argument für Auslagerung und Beschäftigungsreduzierung die beabsichtigte Konzentration auf die Hochtechnologie, die sogenannten „Kernkompetenzen“, genannt. Schon heute sind rund die Hälfte der Berliner Produkte erst seit weniger als fünf Jahren auf dem Markt.

In diesen jungen Produkten mit ihrem schnellen Erneuerungszyklus steckt jede Menge Entwicklung und Know-how. Das bietet die Chance, höhere Gewinne auf dem Weltmarkt zu erzielen, weil die Konkurrenten nicht so schnell hinterherkommen und die Preise verderben.

Ein Beispiel für High-Tech ist die Fertigung von Lichtwellenleitern in Siemensstadt. Die Abschlußkomponenten für Glasfaserkabel werden selbst nach Japan geliefert. Die hochkomplizierten Steckverbindungen müssen haarfeine Glasfasern für die Telekommunikation treffsicher miteinander verbinden, damit die Lichtimpulse ohne Störungen durchs Kabel schießen. Auch die ultramodernen Gasturbinen, die bei der Kraftwerkunion (KWU) – im übrigen einziger deutscher Erbauer von Atomkraftwerken – hergestellt werden, gelten als Hochtechnologie.

Wegen des früheren Übergewichts alter, einfacher und technisch ausgereizter Produkte mit hoher subventionierter Fertigungstiefe kamen innovative Entwicklungen für die hiesigen Werke „aber viel zu spät“, bemängelt Betriebsrat Nassauer. Auch aus dieser Vernachlässigung resultiere jetzt die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Früher zum Beispiel wurden hier Fernschreiber hergestellt. Das Faxgerät rechtzeitig als Ersatz in die Serienproduktion zu schicken lehnte die Chefetage ab – eine grandiose Fehlentscheidung. Heute wird das frühere Fernschreiberwerk als Lagerhalle genutzt. Ziemlich lange stellte Siemens auch noch die gute alte Rohrpost her. Da wurden Papierrollen per Preßluft durch die Metallrohre gejagt, als man schon Computer einsetzen konnte.

Allerdings muß High-Tech-Produktion nicht unbedingt zur Reduzierung der Fertigungstiefe führen. Das diesbezügliche Programm des Vorstands hält Georg Nassauer, gleichzeitig Aufsichtsratsmitglied, für „beliebig und subjektiv“. Auch die Geschäftspolitik von weltweit agierenden Konzernen unterliegt modischem Wechsel, der nicht unbedingt richtig sein muß. Bestes Beispiel ist das Relaiswerk Marienfelde, intern als Musterfabrik gehandelt. Dort wurde nicht ausgelagert, sondern die Fertigungstiefe noch erhöht. Sogar Kunststoffteile für die Relais (Schalter für Wischeranlagen im Auto etc.) stellt man dort selbst her – aus Angst, die Zulieferer könnten mit dem Know-how zur Konkurrenz gehen. Und siehe da: Die Relais lassen sich verkaufen – auch nach Japan.

Auch wenn die Zahl der Arbeitsplätze gleichbleibt: High- Tech-Produktion hinterläßt deutliche Spuren in der Arbeitnehmerschaft. AusländerInnen und ArbeiterInnen sind auf dem Rückzug. Statt dessen kommen Deutsche und angestellte Ingenieure. Dies ist auf die Tendenz zu anspruchsvolleren Tätigkeiten und höherer Qualifikation zurückzuführen. Der Anteil von Beschäftigten ohne deutschen Paß hat sich von 6.600 im Jahr 1973 auf 3.300 halbiert. Auch die Zahl der ArbeiterInnen reduzierte sich im gleichen Zeitraum um 50 Prozent. Die Zahl der Angestellten stieg dagegen an – nicht zuletzt durch eine Verstärkung der Entwicklungsabteilungen. Bei den weiblichen Beschäftigten ist eine Verlagerung zu beobachten: Während im Marienfelder Werk Frauen früher Spulen per Hand wickelten, kontrollieren ihre männlichen Facharbeiter- Kollegen heute die Maschinen. In der Produktion arbeiten immer weniger Frauen, aber der Rückgang wird durch vermehrte Beschäftigung im Angestelltenbereich wettgemacht.

Der Druck auf die Beschäftigtenstruktur entsteht nicht zuletzt durch den TOP-Prozeß (Time-Optimized Processes – zeitoptimierte Abläufe). Unter diesem Stichwort faßt Siemens die Einführung von Gruppenarbeit, Abbau von Hierarchien, größere Verantwortlichkeit der Belegschaft und die enge Kooperation von Entwicklung, Fertigung und Vertrieb zusammen. Diese Organisationsstruktur, die simple Tätigkeiten durch ein ganzes Bündel verschiedener Anforderungen ersetzt, gibt angelernten ArbeiterInnen wenig Chancen. Den Übrigbleibenden allerdings gefällt das neue System. Sie haben mehr Freiraum, was sie dem Konzern mit höherer Motivation und Produktivität vergelten.

Insgesamt hat TOP dem Unternehmen im vergangenen Geschäftsjahr einen Produktivitätszuwachs von rund 7 Milliarden Mark beschert. Ohne diesen Zugewinn wäre Siemens in den roten Zahlen. „Aber“, so schränkt Betriebsrat Georg Nassauer die segensreiche Wirkung des TOP-Prozesses ein, „als Ausgleich für den Produktivitätsfortschritt muß man uns auch neue Produkte und Fertigungen geben.“ Sonst machten die Beschäftigten nicht mehr mit. Man könne schließlich nicht von ihnen verlangen, daß sie sich selbst wegrationalisieren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen