Jelzin zeigt ein Herz für Grosny

Rußlands Präsident ordnet den Truppenrückzug aus Tschetschenien an. Die Zukunft der Kaukasusrepublik wird bis 2001 vertagt  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Boris Jelzin will sich nicht länger bypassen lassen. Am Wochenende ordnete er den Rückzug aller russischen Truppeneinheiten aus Tschetschenien an, um den Weg freizumachen für Parlaments- und Präsidentenwahlen, die am 27. Januar stattfinden sollen. Anders als ursprünglich geplant verlassen nun auch die letzten zwei Brigaden des Innenministeriums den kaukasischen Kampfplatz. Damit hat Rußland den militärischen Forderungen der Rebellen auf ganzer Linie entsprochen.

Aus dem Büro Jelzins verlautete: „Das Dekret läßt an der Sicht des Präsidenten keine Zweifel mehr offen, daß er eine gewaltsame Lösung des Tschetschenienkonflikts für aussichtslos hält.“ Die Tschetschenen sollten eine faire Chance erhalten, sich frei entscheiden zu können, ohne „in einen Gewehrlauf zu schauen“, führte Pressesprecher Sergej Jastrschembsky aus. Jelzin mahnte die Regierung an, einen „geordneten Rückzug“ zu organisieren, ohne allerdings den Termin genauer festzulegen.

Erst nach Bekanntgabe des Dekrets setzten sich Rußlands Premier Wiktor Tschernomyrdin und sein tschetschenischer Amtskollege Aslan Maschadow an den Verhandlungstisch. Sie unterzeichneten ein Abkommen, das die Beziehungen zwischen Rußland und der abtrünnigen Republik zunächst bis zum Wahltag regulieren soll. In dem Vertrag ist von Demilitarisierung und weiteren Maßnahmen zur Friedenssicherung die Rede. Inwieweit sich die Demilitarisierung auch auf die Tschetschenen bezieht, bleibt offen. Moskau hatte bis zuletzt versucht, wenigstens zwei Brigaden in der Republik zurückzulassen, konnte sich anscheinend aber nicht durchsetzen. Aslan Maschadow kommentierte: „Wir hatten uns nicht das Ziel gesteckt, die russische Armee zu besiegen, sondern kämpften, damit auf unserem Territorium kein russischer Soldat verbleibt.“ In der ihm eigenen Zurückhaltung setzte Machadow dann nach: „Ich glaube, diese Ziel haben wir erreicht.“

Es ist das erste Abkommen, das Rußland mit der neuen tschetschenischen Koalitionsregierung geschlossen hat und das die offiziellen Titel der tschetschenischen Repräsentanten führt, die vor dem Friedensschluß vom Kreml als Banditen bezeichnet worden waren. Mit Genugtuung stellte Pressechef Udugow fest, die russische Armee hätte gegen ein ganzes Volk gekämpft. Deren Eingeständnis nun, sei ein Beweis, daß letztlich der „demokratische Flügel in der russischen Führung“ gesiegt habe.

Der Vertrag sieht nach den Wahlen weitere Verhandlungen vor, in denen auch die Frage „gemeinsamer Maßnahmen im Verteidigungsbereich“ wieder aufgenommen werden soll. Beide Seiten vermieden, das Statusproblem der Kaukasusrepublik zu berühren, die nach wie vor offiziell darauf besteht, aus dem russischen Staatsverband auszuscheiden. Die Tschetschenen geben sich zunächst mit den Vereinbarungen im Friedensschluß von Chassawjurt zufrieden, die der geschaßte Sicherheitsratssekretär Alexander Lebed noch ausgehandelt hatte. Die endgültige Entscheidung, „souverän oder Subjekt der Föderation“, wurde bis ins Jahr 2001 hinausgeschoben.

Unterdessen gab Informationsminister Udugow ein bemerkenswertes Beispiel kaukasischer Sophistik: Er nannte den Vertrag den „bedeutendsten Sieg Rußlands im Kaukasus seit 300 Jahren“. Dergleichen hört man im imperialen Moskau nicht allzu gern. Kommunistenführer Gennadij Sjuganow wetterte denn auch sofort vom Ausverkauf und Zerfall Rußlands, den er meint aufhalten zu können, indem das Parlament die Regierung per Mißtrauensvotum zu Fall bringt. Einen entsprechenden Antrag reichte er noch am Wochenende ein. Ein Routinevorgang, der womöglich im Sande verläuft, aber für erheblichen Wellengang im Wasserglas sorgt.

Unterdessen sind dem Regulierungsabkommen noch einige Zusatzpassagen beigefügt, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Moskau und Grosny normalisieren sollen. Ab 1. Dezember wird der Flughafen in Grosny geöffnet und der Zugverkehr wird den Betrieb aufnehmen. Ebenfalls wurde angeregt, binnen der nächsten Woche alle offenen Fragen rund um Öl und Gas vertraglich zu regeln.