„Die Zeit der Diktatoren ist vorbei“

Die Opposition gegen das Milošević-Regime nimmt breite Formen an. Die Stabilität des Systems ist in Frage gestellt. Weitere Massendemonstrationen und Proteste stehen bevor  ■ Aus Belgrad Erich Rathfelder

Schon am frühen Nachmittag begannen sich gestern erneut Tausende von Menschen in der Belgrader Innenstadt zu versammeln, um gegen die Annullierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen zu protestieren. Die Opposition hat gestern den Obersten Gerichtshof Serbiens angerufen, der bis spätestens heute darüber entscheiden muß, ob die Annullierung der Wahlergebnisse durch untere Instanzen rechtens ist.

Doch unbeschadet der Gerichtsentscheidung geht es bei den Protesten in Belgrad wie schon bei den Massendemonstrationen in der kroatischen Hauptstadt Zagreb Ende letzter Woche nicht mehr nur um ein Etappenziel: „In Zagreb wackelt Tudjman, hier wollen wir Milošević stürzen“, erklären jugendliche Demonstranten. Und an der Belgrader Universität hat ein Initiativkomitee einen Proteststreik ins Leben gerufen. Viele Studenten haben in ihren Fakultäten übernachtet, um auf diese Weise den Lehrbetrieb zu stoppen. Es geht längst nicht mehr nur um die Wahlen und die Wahlfälschungen, sondern ums Prinzip. 150.000 Menschen hatten schon am Montag abend bei der größten Demonstration seit dem 9. März 1991 einen Machtwechsel gefordert.

Die Stimmung in der Stadt ist erregt. Kritisiert wird von vielen, daß in den staatlich gelenkten Medien nichts über die Demonstrationen berichtet wurde. Und sie fragen sogar ausländische Journalisten, was denn eigentlich passiert ist. Nach den Aufrufen des Oppositionsbündnisses „Zajedno“ (Gemeinsam) wurden gestern für den späten Nachmittag noch mehr Demonstranten erwartet als am Tag zuvor.

Die Führer der Protestbewegung, der Vorsitzende der serbischen Erneuerungsbewegung Vuk Drašković, der Vorsitzende der Bürgervereinigung, die Menschenrechtlerin Vesna Pesić und der Vorsitzende der Demokratischen Partei Zoran Djindjić sind in den letzten Wochen zu einer politischen Einheit zusammengewachsen. Alte Konflikte und Streitereien wurden zur Seite geschoben. „Wir werden mit Streiks und Demonstrationen weitermachen, wir werden der Welt zeigen, daß Milošević seine Legitimation nur aus der Gewalt bezieht“, sagt Zoran Djindjić. „Wir wollen ein demokratisches und modernes Serbien schaffen. Die Zeit der Diktaturen auf dem Balkan ist vorbei.“

Von diesem Ziel sind die Oppositionellen aber noch ein gutes Stück entfernt. Denn die Ereignisse nach der zweiten Runde der Kommunalwahlen am 17. November 1996 lesen sich wie ein Lehrbuch über Manipulationen durch ein totalitäres Regime. Noch am Wahlabend, als nach ersten Ergebnissen das demokratische Oppositionsbündnis in 122 von 188 Gemeinden vorne lag, konnten die Oppositionellen jubeln. Doch schon am Montag wurde das Ergebnis nach unten korrigiert. Ab dann war das Oppositionsbündnis nur noch in 44 Gemeinden vorn. Immerhin wurde damals von der Wahlkommission das Ergebnis und damit der Sieg der Opposition in Belgrad und Niś bestätigt. In der Hauptstadt hatte die Opposition 60 von 110 Sitzen gewonnen, die Milošević Partei – die zusammen mit der Jugoslawischen Linken, der Partei der Ehefrau Miloševićs, Mira Marković, ein Bündnis eingegangen war – lediglich 23 Sitze. 15 Sitze gingen an die Rechtsradikalen. Doch schon am 22. November wurde auch diese Wahl angezweifelt. Ein Gericht annullierte das Ergebnis.

Wer die Macht in der Hauptstadt verliert, verliert sie auch im ganzen Land. Diese Weisheit ist nicht nur der Opposition, sondern noch mehr dem Regime bewußt. Die Manipulation war so offen, daß sie Heiterkeit auslöste. So beschwerte sich die Sozialistische Partei, Wahlplakate der Opposition seien 30 Meter von den Wahllokalen angebracht gewesen, und man hätte die Wähler beeinflußt. Die Gerichte haben diese Beschwerden berücksichtigt. „Das ist so an den Haaren herbeigezogen“, sagt Zoran Djindjić, „da bleibt einem die Spucke weg.“

Jetzt ist eine dritte Runde der Wahlen angesetzt. Am heutigen Mittwoch soll in allen Gemeinden, wo die Opposition gewonnen hatte, wieder gewählt werden. Die Opposition hat sich entschlossen, in Belgrad die Wahlen zu boykottieren. In den anderen Städten sollen die Führungen der Opposition selbst entscheiden, ob sie zum Boykott aufrufen oder nicht. Eines ist jedoch sicher: Es wird weiter demonstriert.

„Eigentlich hatten wir dieses ganze Spiel schon erwartet“, sagt Zoran Djindjić. Und deshalb habe die Opposition schon gleich nach den Wahlen die Demonstrationen organisiert. Das Regime sei von sich selbst aus nicht mehr reformierbar. Und deshalb erwartet die Opposition vom Ausland, nicht mehr auf Milošević zu setzen. „Milošević ist kein stabiler Faktor mehr, das Gegenteil ist wahr.“

Daß der deutsche Außenminister Klaus Kinkel und der Sprecher der US-Regierung Milošević jetzt kritisierten, wird von Zoran Djindjić begrüßt: „Wie gesagt, die Zeit der Diktatoren auf dem Balkan muß vorbei sein.“