■ Heute beginnt der bündisgrüne Parteitag in Suhl. Eine Frage ist: Wozu braucht man die Grünen eigentlich noch?
: Machtfragen, Themenfragen

Rückblick: Am Anfang haben die Grünen die Themenfrage gestellt. Wie die Arbeiterbewegung, nur in kürzerer Zeit, haben sie gezeigt, wie man Politik und Gesellschaft verändern kann, ohne an der Macht zu sein. Sie haben, nicht allein, aber doch wesentlich, das gesellschaftliche Klima verändert. Die Öko- und die Geschlechterfragen werden heute anders diskutiert als vor 20 Jahren. Erst hat sich die Sprache verändert und dann auch die Politik.

Inzwischen sind die Grünen zu einer normalen Partei geworden. Sie wollen an die Macht. Aber warum und wozu eigentlich?

Rundblick: Wir leben in einer Zeit, in der Reformen nicht mehr genügen und das Pathos der Revolution schal geworden ist wie alte Limonade, und das in einem historischen Augenblick, in dem sich hinter dem Rücken der Akteure grundstürzende Veränderungen vollziehen. Nahezu sämtliche Institutionen, von den Volksparteien bis zu den Volkskirchen, von der Kleinfamilie bis zu Arbeit und Beruf, von den Systemen der Tarifverträge bis zu jenen der sozialen Sicherheit, vom Kindergarten bis zum Nationalstaat, sind im 19. Jahrhundert entstanden, haben im 20. Jahrhundert Wachstum und Triumph (und Tragödie) erlebt, und sie werden so, wie sie sind, das 21. Jahrhundert nicht überleben. Sie werden neu begründet und rekonstruiert werden, oder sie werden erst erodieren und schließlich zerfallen mit allen Konsequenzen. Anpassungsreformen können Zeit gewinnen für eine Debatte, die öffentlich noch kaum begonnen hat. Hinter den Kulissen freilich rumoren längst Fragen, die auf differenzierte Antworten warten:

Ist es wirklich besonders sinnvoll und sozial, Arme und Arbeitslose nur mt Wohlfahrtsschecks abzufertigen, ansonsten aber nichts von ihnen zu erwarten? Muß, wer soziale Apartheid verhindern will, nicht niedrige Löhne zulassen, aber durch Sozialeinkommen ergänzen? Wie lassen sich eine lokale Ökonomie und ein Dritter Sektor stabilisieren, die sinnvolle Tätigkeiten und auch Einkommen und soziale Rechte anbieten, wenn auch nicht immer auf ÖTV/BAT- Niveau? Was ist eigentlich los mit einem verstaatlichten Bildungssystem, das im internationalen Vergleich abfällt, dafür aber konsequent die Privilegierten endlos weiter privilegiert und so die Ungleichheiten verschärft? Wie läßt sich der Sozialstaat verbinden mit der Idee einer „verantwortungsvollen Gesellschaft“, wie Tony Blair das nennt, „die uns gibt, weil ihr gegeben wird“? Ist die „Kultur der Abhängigkeit“ bloß ein rechter Mythos – und die Wiederaneignung des Sozialen an den Graswurzeln der Demokratie kein Thema?

...and what about the Greens? In dieser etwas anderen Partei hat es von Anfang an zwei kulturelle und biographische Stränge gegeben. Da war einmal die alte Linke und andere autoritäre Gestalten aus den K-Gruppen, Stalinisten inbegriffen, und da waren die Öko- Freaks und Naturschützer, die Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegten, die Spontis und Graswurzelanarchos. Diese nicht alltägliche Liaison kann, wie gesehen, zu Selbstblockaden und Flügelkämpfen führen, sie kann aber auch, irgendwann, zu einer neuartigen Koalition von Ideen beitragen.

Es gibt bei den Grünen, im besten Falle, eine eigenwillige, aber zukunftsfähige Mischung: das Selbstbewußtsein derer, die in Initiativen etwas unternommen haben, die selbstverantwortlich zu handeln wissen, aber ohne sozialen Zynismus; eine Skepsis gegenüber Big Gouvernment und Big Business, ohne zu vergessen, daß Politik und Regierung wichtig bleiben; eine Kultur sozialer Verpflichtung, freiwillig, aber nicht privat, öffentlich, aber nicht immer gleich staatlich; die Einsicht aus Erfahrung, daß eine schlaffe Wirtschaft noch keine dynamische Gesellschaft macht, daß aber auch das alte Ideal eines guten Lebens und einer guten Gesellschaft mehr meint als die Summe ökomomischer Tätigkeiten. All das sind Gefühle und Erfahrungen, die vielen, nicht nur bei den Grünen, nicht ganz fern liegen dürften. Doch hinter der Chance lauert die Gefahr: Da sind nach wie vor jene, die Kompromisse ablehnen und Politik, ganz deutsch, für ein schmutziges Geschäft halten. Weil sie sich in dem einen Punkt (Kernkraft) nicht durchsetzen, verkennen sie ihre Chance in der Fläche. Von den Linkstraditionalisten ganz abgesehen. Sie dominieren noch Delegiertenkonferenzen, doch immer weniger die Partei.

Das wäre die eine Perspektive: Mut zu Alternativen; andere Instrumente, Institutionen und Verfahren im Bildungswesen, bei der Bekämpfung der Armut im Sozialstaat wie in der Sozialstadt bei der Aktivierung des sozialen Engagements. Der andere Weg: die FDP zu kopieren oder in der ideologischen Erbmasse der SPD zu wühlen. Morituri te salutant!

Eine nachhaltige Entwicklung in Natur und Gesellschaft steht auf der politischen Tagesordnung. Nicht nur für die Grünen. Von ihnen erfordert es freilich eine Rekonstruktion ihrer eigenen Tradition. Es geht nicht mehr nur um eine Politik für individuelle Freiheiten und gegen alte Abhängigkeiten. Die Relativierung alter Autoritäten muß nicht die neue Autorität eines beliebigen Relativismus begründen. „Eine erneuerte radikale Demokratisierungsbewegung muß sich auch die bewußte Wahrnehmung von Traditionen und die Schaffung von Werten zur Aufgabe machen.“

Vorlagen für einen solchen Aufbruch sind längst gegeben. Der englische Soziologe Anthony Giddens, von dem dieses Zitat stammt, hat gemeinsam mit Ulrich Beck einen (zufällig grünen) Suhrkamp- Band „Reflexive Modernisierung“. Eine äußerst anregende Theorie der Gesellschaft, die man „nur“ politisch zu lesen braucht. Ein britischer Lord aus Deutschland hat seinem Oberhaus einen Bericht vorgelegt: „The Creation of Wealth and Social Cohesion in a Free Society“.

Zum Reichtum der Nationen, so Ralf Dahrendorf, gehöre nicht nur das Bruttosozialprodukt, sondern auch der soziale Zusammenhalt und eine ökologisch zuträgliche Entwicklung. Im Norden der Republik bricht eine Ministerpräsidentin mit einem ungewöhnlichen Kongreß (Anfang November) und einer bemerkenswerten Rede mit alten Orthodoxien, mit dem Neokapitalismus der einen ebenso wie mit dem Sozialdogmatismus der anderen. Und die CDU und CSU, diese Parteien ohne historischen und programmatischen Ballast, sind immer dann für Überraschungen gut, wenn sie keiner mehr erwartet.

Machtfrage. Themenfragen. Es könnte sein, daß der Umweg sich als Abkürzung erweist. Für die einen wie die anderen. Warnfried Dettling