piwik no script img

Traumlogik, Erzählzwang

Kazuo Ishiguros Deutschlandroman „Die Ungetrösteten“: Ein Spiegelkabinett der Allegorien  ■ Von Michael Rutschky

Kazuo Ishiguro, 1954 in Japan geboren, seit 1959 in England und englisch schreibend, hat 1995 seinen vierten Roman veröffentlicht, „The Unconsoled“, der gleich 1996 auf deutsch erscheint, „Die Ungetrösteten“, ein dickes Ding von 736 Seiten.

Der Referent liebt dicke Romane. Was auch immer sie erzählen, wenn es gelingt, bieten sie das richtige Leben im falschen. Nacht für Nacht vor dem Einschlafen auch nur eine Stunde in den dicken Roman einzukehren, das macht aus dem vergangenen Tag, was auch immer er brachte, eine rundum gelungene Angelegenheit.

Der dicke Ishiguro freilich, wie zwei nächtliche Versuche zeigten, weigerte sich, in die Reihe dieser dicken Romane einzutreten. Der Referent mußte ihm tagsüber Lesezeit einräumen, um durchzukommen; und das im Sessel oder sogar am Schreibtisch, statt auf dem Chaiselongue gefläzt wie die notorisch romanlesende Dame. Bald mußte der Referent erkennen, daß er als Leser des Romans unter seinen Titel fiel, auch er einer der Ungetrösteten.

Der Pianist Ryder, Engländer, mit Künstlerruhm bedeckt, trifft in der Stadt ein, wo er am Donnerstag bend ein Konzert geben soll, und bezieht ein Hotelzimmer. Die Stadt bleibt ohne Namen – der Referent hielt es für das beste, sie in Deutschland anzusiedeln. Immerhin unternimmt einmal einer der Ungetrösteten, Stephan Hoffmann mit Namen, Sohn des Hoteldirektors und seinerseits hoffnungsvoller Pianist, eine nächtliche Autofahrt nach Heidelberg zurück, wo er studiert.

Eine Stadt in der Krise – woher eigentlich?

Daß die Stadt in einer tiefen Krise steckt, die an jenem Donnerstag abend gelöst werden soll, ist weder dem Leser Rutschky noch dem Pianisten Ryder von Anfang an klar. Erst im Laufe der Begebenheiten gewinnt der Abend diese Bedeutung – die fortgeschrittene Theorie spricht von „emergenten Prozessen“ (deren Ergebnisse notwendig überraschen, also nicht aus ihren Voraussetzungen vorherzusagen sind), der Romancier Ishiguro zeigt sich also der avancierten Theorie gewachsen.

Was macht die tiefe Krise unserer kleinen Stadt aus? Das ist sogar hinterher, wenn die 736 Seiten durchgelesen sind, kaum zu sagen, weil sich die Bestimmungen der Krise ebenso wandeln wie die des Konzertabends.

Wenn der Leser die namenlose Stadt des Romans der Einfachheit halber für eine deutsche erklärt, kann er eine kühne Deutung wagen. Das Gemeinwesen wurde vor Zeiten, nun, sagen wir: revolutioniert durch die weitreichenden Ideen und Pläne eines gewissen Adolf Hitler, pardon, Max Sattler, und erholt sich nur mühsam von diesen Überschwenglichkeiten. Dabei geriet es unter den Einfluß eines gewissen Stadtrats Christoff, der für Mäßigung in einem Umfang sorgte, daß schon wieder Depression dabei herauskam – mühsam hindert der Leser sein Grübeln daran, in Herrn Christoff die Christdemokraten allegorisiert zu sehen, die eben jene Ernüchterung nach dem Hitlerschen, ähm, Sattlerschen Rausch zu organisieren hatten.

Zu dem mählichen Bedeutungsaufbau des alles klärenden Konzertabends gehört jedenfalls, daß der Pressefotograf, der Ryder anläßlich seines Aufenthaltes in unserer kleinen Stadt für die Lokalzeitung zu porträtieren hat, ihn ausgerechnet vor dem Haus des Sattler, das draußen in der Landschaft als kühne Konstruktion aufragt, in der Pose des Vorwärtsdrängenden, Zukunftsweisenden ablichtet. So tritt Ryder, was die Mythologie unserer kleinen Stadt betrifft, in die Nachfolge Sattlers ein – freilich schaut sein Haus, wie der Leser schmerzlich grübelnd vermerkt, wohl eher dem berühmten Einsteinturm ähnlich, den der Architekt Mendelsohn 1920 in Potsdam erbaute, als Hitlers Neuer Reichskanzlei.

Stadtlabyrinth – eine deutsche Allegorie?

Sattlers Haus steht in der freien Landschaft. Ebenso, scheint es, die städtische Konzerthalle, in der dann alles zusammenlaufen soll, sie wird womöglich von Wald umgeben. Von Sattlers Haus wird der Pianist Ryder durch niemand anderes als den Stadtrat Christoff zu einer Gaststätte eskortiert, die sich, wie Ryder verblüfft feststellt, in demselben Gebäude befindet wie das innerstädtische Café, aus dem der Pressefotograf ihn Stunden zuvor entführt hatte; leicht gelangt er aus der Gaststätte in das Café zurück, wo Boris die ganze Zeit auf ihn wartete: Eine solche aus Stadt und freiem Feld vermischte Landschaft, sagt sich der krampfhaft um Allegorese bemühte Leser, bietet doch besonders eindrucksvoll das westliche Westdeutschland, zwischen Düsseldorf, Bielefeld und, sagen wir: Trier. Und weil wir schon dabei sind: Es findet sich sogar eine Mauer in der namen- und ortlosen Stadt Ishiguros, die deren eine Hälfte von der anderen trennt, so daß Ryder Mühe hat, das Konzerthaus zu erreichen; die Vorgeschichte der Mauer führt die Allegorese freilich wieder so in die Irre wie die Sache mit Max Sattler.

Wer ist der kleine Boris, der da im Café auf den Pianisten wartet, während ihn der Pressefotograf zu Sattlers Haus entführt? Mit Boris wurde Ryder durch Gustav zusammengebracht, den alten Diener des Hotels, in dem Ryder anlangte. Gustav bat den weltberühmtem Pianisten um Vermittlung, seine Tochter Sophie sei in großen Schwierigkeiten, die sich bereits auf ihren kleinen Sohn Boris auswirken – dann lernt der Leser aber, daß Sophie und Ryder eine Liebesgeschichte verbindet und daß Boris der Sohn Ryders ist – nein, doch nicht, aber sein Sohn sein könnte. Irgendwo draußen, in dem Wohnquartier am künstlichen See, scheint es eine gemeinsame Wohnung gegeben zu haben; jetzt sucht Sophie ein Haus, das das Zusammenleben mit dem von seinen Tourneen immer wieder entführten Pianisten erleichtern soll.

Alles ist erlaubt – damit der Roman weitergeht

Aus der Geschichte des Reisenden, der bei der Ankunft die Bekanntschaft eines sorgenvollen Hoteldieners macht, gerät der Leser in die Geschichte des Familienvaters Ryder, so unvermittelt, wie aus der Innenstadt in die freie Landschaft und wieder zurück. Ishiguro, flüchtet der Leser auf die Ebene der Erzähltechnik, appliziert immer wieder harte Schnitte zwischen den Schauplätzen ebenso wie zwischen den Episoden, aus denen sich seine Personen zusammensetzen. Der Effekt ist der eines Traums, der sich von dieser Szene zu jener fortentwickelt und dabei vor allem den Zweck verfolgt, daß der Schläfer weiterträumen darf und nicht aufzuwachen braucht. So findet Ryder überraschend einen Durchgang aus der ländlichen Gaststätte, wohin Stadtrat Christoff ihn entführte, zu dem innerstädtischen Café, wo sein Halbsohn Boris ihn erwartet. Alles kommt darauf an, daß der Romanleser – wie der Träumer – weitermachen kann, auch wenn Unbehagen und Besorgnis die Erzählung hinterfangen und den Leser selber, wie gesagt, zu einem der Ungetrösteten machen.

Der Erzähler von Kazuo Ishiguros Roman steht unter Erzählzwang. Unbedingt muß er seine Erzählung fortsetzen, ohne Rücksicht auf Plausibilität; unversehens verwandelt sich der englische Pianist in einen Einheimischen der namenlosen Stadt, unversehens verwandelt sich die Stadt in Landschaft, der Hoteldiener Gustav ist der Schwiegervater des Pianisten, und die Frau, die in der Straßenbahn seinen Fahrschein kontrolliert, entpuppt sich als seine Kindheitsfreundin Fiona Roberts – hieß nicht Margaret Thatcher, grübelt der Leser, mit ihrem Mädchennamen Roberts? Aber auch dieser Einfall tröstet wenig.

Der Erzählzwang, unter dem der Roman steht, äußert sich in harten Schnitten zwischen den Schauplätzen, in unerwarteten Wandlungen der eingeführten Personen, im unerwarteten Auftreten neuer Personen. Eine der seltsamsten Techniken, deren sich der Erzählzwang bedient, ist diese: Immer wieder verwandelt sich der Pianist Ryder, aus dessen begrenzter Perspektive erzählt wird, in einen auktorialen Erzähler, der en detail Szenen schildert, denen er gar nicht beigewohnt hat.

Man lernt nur langsam, daß auf den Erzähler kein Verlaß ist, faßte der Kritiker L. zusammen, bei einem Sonntagsspaziergang im herbstlich verfärbten Park von Branitz (nahe Cottbus), den der Fürst Pückler übrigens so unauffällig als Labyrinth angelegt hat, daß du gar nicht bemerkst, wie man, auf den sanft schlängelnden Wegen durch Baumgruppen, dann wieder über freie Wiesen spazierend, allmählich die Orientierung verliert.

Erzählen beschädigt – durch Weltgeschichte

Auch in seinen drei ersten Romanen operiert Ishiguro mit Erzählern, auf die kein Verlaß ist. Freilich hat die Blockade Gründe, die im Laufe der Begebenheiten – wie es dem Bildungsroman entspricht – aufgeklärt und ausgeräumt werden. Allmählich lernt Stevens, der Butler, im ganzen Ausmaß, wie Lord Darlington, sein Herr, das Schloß zum Treffpunkt für hohe Nazis und deren englische Kollaborateure machte: „Was vom Tage übrigblieb“, Ishiguros erfolgreichster Roman, den James Ivory mit Anthony Hopkins als Butler Stevens verfilmte. Der Erzähler ist weniger unzuverlässig als in seiner Wahrnehmungsfähigkeit beschränkt.

Masuji Ono dagegen – „Der Maler der fließenden Welt“: Ishiguros zweiter Roman – braucht lange in seiner Erzählung, um sich selbst und dem Leser einzugestehen, daß sich gewisse Schwierigkeiten seines gegenwärtigen Lebens aus der Vergangenheit erklären, in der er als Maler Propagandist des japanischen Imperialismus war. Die Unzuverlässigkeit des Erzählers hat psychologische Gründe – beim Butler Stevens waren es soziale: Masuji Ono schämt sich seiner Vergangenheit, er hat Schande über sich und seine Familie gebracht. In diesen beiden Romanen löst sich also die Unzuverlässigkeit – oder Beschränktheit – des Erzählers im Laufe der Begebenheiten auf; am Ende hat der Leser ein hinreichend vollständiges Bild. Das war in Kazuo Ishiguros allererstem Roman „Damals in Nagasaki“ anders. Hier bleibt die Beschränkung respektive Unzuverlässigkeit der Erzählerperspektive unaufgelöst. Was Frau Etsuko damals in Nagasaki wirklich erlebte, auf welchem Weg sie nach Großbritannien gelangte, aus welchen Gründen sich ihre Tochter Keiko hier das Leben nimmt, der Leser bleibt ohne befriedigende Aufklärung: Klar, sagte sich der Referent nach der Lektüre, der Roman handelt schließlich vom Krieg, von Traumen, die unheilbar Löcher in das Erzählgewebe reißen.

Weil die ersten drei Romane Kazuo Ishiguros dergestalt vom Krieg, von der Nazizeit und dem japanischen Imperialismus handeln, von der Beschädigung der Romanerzählung durch die Weltgeschichte – vermeinte sich der Referent gerechtfertigt, in den Ungetrösteten von Ishiguros viertem Roman die Deutschen zu erkennen, insbesondere die Westdeutschen, die, in qualvoller Nahsicht, von ihren persönlichen und familialen Enttäuschungen und Konflikten gepeinigt sich zeigen, den angereisten Pianisten Ryder sogleich in das engmaschige Netz ihres politischen und Privatlebens hineinziehen, mit impertinenter Höflichkeit, doch außerstande sind, einen Schritt zurückzutreten und sich ein allgemeines Bild von sich selbst und ihrer Lage zu machen. Deshalb treten die Gründe ihres Ungetröstetseins nie erkennbar in Erscheinung.

Wünscht der Referent an dieser Deutung festzuhalten?

Gänzlich verworfen werden muß sie wohl nicht. Bloß mindert sie das Ungetröstetsein des Lesers um kein Gran; kein abschließendes „Ach so!“ kann er sich sagen, um das Buch befriedigend zu beenden.

Ryder hat an dem Donnerstag abend sein Klavierkonzert nicht gegeben, einfach keine Gelegenheit dazu. Doch scheint der Abend insgesamt der ungetrösteten Stadt die Katharsis gewährt zu haben, die sie sich wünschte, und Ryder tröstet sich selbst mit dem Gedanken, daß er dazu irgendeinen Beitrag geleistet habe. Die Straßenbahn trägt ihn zum Hotel, dann muß er zum Flughafen, der nächste Auftritt in Helsinki.

Die Straßenbahn fährt, wie die U-Bahn in London, eine Circle Line, also im Kreis; eigentlich könnte Ryder auf ewig verweilen. Er plaudert mit einem Elektriker, nachdem sich beide von dem üppigen Frühstücksbüffet versorgten, das in der Straßenbahn aufgebaut ist für die morgendlichen Gäste. So fehlt es an nichts, so perfekt, dachte der Referent zum Abschied, kriegen so etwas eben nur die Deutschen hin.

Kazuo Ishiguro: „Die Ungetrösteten“. Roman. Deutsch von Isabell Lorenz. Rowohlt Verlag, 1996, 736 Seiten, gebunden, 49,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen