: Ein Lübecker Alibi auf tönernen Füßen
Ist die Aussage der Jugendlichen aus Grevesmühlen, die nach dem Brandanschlag in Lübeck kurzzeitig festgenommen wurden, stichhaltig? Ein LKA-Gutachten läßt vorsichtige Zweifel zu ■ Von Andreas Juhnke
Hamburg (taz) – Es war kurz nach Mitternacht am 19. Januar, als die Lübecker Gerichtsmediziner Dr. Oehmichen und Frau Dr. Gerling ihre knapp anderthalbstündige Untersuchung der vier jungen Männer aus Mecklenburg- Vorpommern abgeschlossen hatten. René B. (27), Heiko P. (23), Dirk T. (23) und Maik W. (18) waren im Laufe des 18. Januars festgenommen worden, weil sie in Verdacht standen, das Haus an der Lübecker Hafenstraße in Brand gesteckt zu haben, in dem zehn Menschen starben, die in Deutschland Asyl beantragt hatten.
Als die Gerichtsmediziner ihre Untersuchungsergebnisse niedergeschrieben hatten, stand es schlecht um die vier, obwohl sie jede Tatbeteiligung bestritten.
Bei René B. waren versengte Haare und Augenbrauen, bei Dirk T. versengte Brauen und Lider, bei Maik W. verschmorte Haare am Kopf, an den Brauen und am linken Unterarm gefunden worden. „Diese Veränderungen sind frisch“, notierten die Mediziner, später präzisierten sie, „maximal 24 Stunden alt“.
Die vier kamen am nächsten Morgen wieder frei, weil das Auto, in dem drei von ihnen unterwegs gewesen sein wollen, von einer Polizeistreife etwa 20 Minuten vor dem Brand erst an einer Tankstelle gesehen und später auf dem Weg zum Brand überholt wurde. Dieses Alibi für drei der vier wurde vom Tankwart bestätigt, andere Zeugen sahen sie früher am Tatort. In den vergangenen Monaten hatten drei der vier Mecklenburger ausgesagt, wie sie sich in den Wochen und Tagen vor dem Brand ihre Haare versengt haben wollen. Keine dieser Geschichten betraf allerdings den fraglichen Zeitraum.
Maik W. hatte erzählt, daß er einige Tage vor dem Hafenstraßen- Brand mit Dirk T. einen Hund in einen Holzverschlag getrieben und ihm mit einem brennenden Strahl aus einer Haarspraydose das Fell verbrannt habe. Der Rückschlag der Flammen habe ihn dann selbst versengt. Zuletzt gab er an, dieser Vorfall hätte am 8. Januar stattgefunden, zehn Tage vor dem Brand in Lübeck.
Dirk T. bestritt die Beteiligung an dieser Tierquälerei zunächst, klagte aber über die Tücken seines Ofens, aus dem beim Befeuern immer mal wieder Flammen schlügen, denen er wohl die Versengungen zu verdanken habe. René B. gab einige Monate später zu Protokoll, er habe Anfang Januar beim Abfüllen von Benzin aus seinem Mofa mit einem Feuerzeug in den Benzinkanister geleuchtet und sich an der folgenden Stichflamme verbrannt. Gutachter des Landeskriminalamts (LKA) in Kiel haben mittlerweile zwei dieser Aussagen auf dem wissenschaftlichen Prüfstand nachvollzogen. Ergebnis: wenig wahrscheinlich.
Zunächst erwarben die Prüfer im Sommer bei Aldi in Kiel eine Dose „Trendy Haarlack, super strong Hairstyle“. Mit diesem Spray wollte Maik W. dem Hund hinter dem Holzhaufen zu Leibe gerückt sein. Laut LKA brannte „Trendy“ in einer „Flammenkeule“ von 50 Zentimetern mit „rötlich-gelber Flamme“ ab.
Nur war der „Einzelimpuls sehr gering“, der im „feinen Sprühnebel“ aus der Dose gemessen wurde. Ergebnis: Selbst bei den idealen Untersuchungsbedingungen an einer glatten Mauer „erfolgt kein Zurückschlagen der Flammen von der Wand“. Fazit der LKA- Untersuchung am 22. August 1996: „Eine Versengung von Kopfbehaarung kann also nur dann erfolgen, wenn die Haare in eine solche Flamme oder deren unmittelbare Nähe gelangen.“ Der Haarlack klebte an der Wand und „brennt in einer nur wenige Zentimeter dicken Schicht an der Wand ab“.
Auch der Ofen von Dirk T. wurde Gegenstand einer wissenschaftlichen Exploration. Länge und Durchmesser des Ofenrohrs wurden vor Ort in Grevesmühlen vermessen, dazu Höhe des Schornsteins und die thermischen Bedingungen zwischen den Schamottesteinen.
Am 10. September 1996 befand das LKA Kiel, „daß ein Herausschlagen der Flammen sehr wenig wahrscheinlich sein dürfte“. Verbrennungen von Kopfbehaarungen können, schrieb der LKA-Gutachter, „nur dann erfolgen, wenn die Haare direkt oder nahezu direkt mit den Flammen in Berührung kamen“.
René B.s außerordentliches Mißgeschick mit dem Benzinkanister wurde nur insofern untersucht, als im Juli bei ihm ein Behälter sichergestellt wurde, aus dem augenscheinlich „eine brennbare Flüssigkeit“ abgebrannt worden war. Weitere Untersuchungen erfolgten nicht. Auch in Sachen versengte Haare wird es kaum neue Erkenntnisse geben. Die Lübecker Staatsanwaltschaft beauftragte zwar einen Spezialisten des bayerischen LKA in der Erwartung, der werde feststellen, daß die Brandspuren „ohne Einschränkung älter als einen Tag bzw. mehrere Tage alt sind“. Aber der Gutachter mußte angesichts der ihm übersandten Beweismittel passen.
Auf den Fotos der drei Versengten waren zwar an Lidern, Brauen und Haaren „je nach Schärfe des jeweiligen Abbildungsbereiches vage bis ausreichend gut Form- und Farbveränderungen erkennbar, die als Sengspuren interpretiert werden können“. Über das genaue Alter der Spuren war dem Wissenschaftler aber keine Aussage möglich. Dazu hätte er die Haare selbst unter sein Laborgerät legen müssen.
Diese Beweismittel aber wurden damals in Lübeck nicht abgeschnitten und asserviert. „Eine qualitative Aussage über das Alt- bzw. das Jungsein einer Sengspur an Haaren ist nur über das direkte Untersuchen der einzelnen Haarenden möglich“, bedauerte der Gutachter in seinem Bericht vom 23. September. „Eine definitive Aussage über das Alter dieser Spuren“ sei wegen der fehlenden Untersuchungsgegenstände „nicht möglich“.
Die Ermittlungen gegen die vier aus Mecklenburg-Vorpommern sind seit geraumer Zeit eingestellt. Als Augenzeugen des Brandes sind sie bislang nicht als Zeugen im Prozeß gegen Safwan Eid geladen. Der Hausbewohner ist von der Jugendkammer des Lübecker Landgerichts angeklagt, das Feuer gelegt zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen