: Von der Würde hinter Kerkermauern
Kurz vor dem Krieg rettete der amerikanische Architekt Hermann Field tschechische Antifaschisten vor den Nazis. 1949 geriet er zwischen die Mühlsteine des Kalten Krieges und verschwand für fünf Jahre in einem polnischen Kerker ■ Von Christian Semler
Fellow travellers hießen in der Terminologie des Kalten Krieges jene oft naiven, oft bornierten, fast immer aber hochgesinnten Intellektuellen, die die Kommunisten ein Stück weit ihres Weges begleiteten. Ursprünglich, in den dreißiger und frühen vierziger Jahren, waren sie auf einer hohen Welle der Sympathie mit der Sowjetunion geschwommen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die kurzlebige Anti-Hitler-Koalition zerbrach, gerieten sie zwischen die Mühlsteine. Sie wollten ihr ursprüngliches, humanitäres Engagement nicht verraten. Sie wollten nicht blind werden gegenüber den Gebrechen des „eigenen“ Systems. Aber für diese Haltung zahlten sie einen hohen Preis: Sie wollten nicht zur Kenntnis nehmen, daß zwischen ihrer Wunschlandschaft und der realen Sowjetunion so gut wie keine Ähnlichkeit existierte. Aus Angst vor Blindheit erblindeten sie.
Hermann Field war fellow traveller eines fellow travellers. Er folgte den Spuren seines Bruders Noel, den er bewunderte und liebte. Wie sein Bruder war er im Geist der amerikanischen Quäker erzogen worden, pazifistisch, empfindsam gegenüber dem Unrecht in der Welt. Aber anders als Noel, dessen sehnlichster Wunsch war, selbst Mitglied des kommunistischen Ordens zu werden, blieb Hermann ein demokratischer radical, ein treuer Nachfahre des Citizen Tom Paine. Er hatte Architektur studiert, verfolgte mit Sympathie den Wiederaufbau in Warschau, das die Deutschen, nach dem Aufstand von 1944, erbarmungslos zerstört hatten.
Hermann Field hatte im Sommmer 1939, nach der Besetzung der „Resttschechei“ durch die deutsche Wehrmacht, eine große Anzahl tschechischer Flüchtlinge, die sich nach Krakau gerettet hatten, ins sichere England gebracht. Eine Reihe dieser Flüchtlinge stiegen nach 1945 in führende Positionen des neuen tschechoslowakischen Staates auf. Auch hier folgte er seinem Bruder, der zuerst viele der nach Frankreich geflohenen Verteidiger der Spanischen Republik, dann politische Flüchtlinge aus dem besetzten Europa, vor den Konzentrationslagern der Nazis rettete. Unter den kommunistischen Westemigranten hatten beide zahlreiche Freunde. Das sollte diesen Kommunisten wie ihren beiden Rettern zehn Jahre später zum Verhängnis werden.
Zuerst verschwand, im Sommer 1949, Noel Field irgendwo zwischen Prag und Budapest. Er hatte Material zu einem Buch über die neu entstandenen Volksdemokratien gesammelt. Hermann beschloß, ihn zu suchen. An einem Augustnachmittag wurde auch er auf dem Warschauer Flughafen verhaftet, auf dem kurzem Weg zwischen Paßkontrolle und Flugzeugzubringer. Und er blieb fast fünf Jahre verschollen.
Lange Zeit hatte Field – in Einzelhaft – keine Kenntnis davon, daß sein Bruder Noel von den sowjetischen und osteuropäischen Geheimdienstspezialisten zum langjährigen Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes stilisiert worden war. Seine Hilfsaktionen wurden zu cleveren Tarnung umgedichtet, dazu bestimmt, Agenten unter den Kommunisten anzuwerben. Diesen Agenten wurde jetzt, in Sofia, in Budapest, in Ostberlin und in Prag der Prozeß gemacht. Noel Field erschien in Person nie vor den Schranken der „Volksgerichte“. Er hatte die ihm abgepreßten Aussagen alsbald zurückgezogen. Aber die aus den Angeklagten herausgefolterten und mit den Daten der Field-Fiktion in Übereinstimmung gebrachten Geständnisse erwiesen sich als ausreichend. Dutzende von Todesurteilen, Hunderte von langjährigen Haftstrafen dezimierten die Reihen der osteuropäischen Vorkriegskommunisten.
Stalin schien am Ziel. Hatte er nicht jeden denkbaren zukünftigen Widerstand aus den Reihen der Kommunisten gegen die Herrschaft der Sowjetunion über Osteuropa vernichtet und die Gefahr, die vom abtrünnigen Jugoslawien Titos ausging, gebannt? Eine Illusion, die platzte, kaum daß Hermann und Noel Field aus ihrer ungarischen bzw. polnischen Haft entlassen worden waren.
Zwei Geschichten über Überleben und Suchen
Vierzig Jahre nach diesem Alptraum haben Hermann und seine Frau Kate ein Buch geschrieben, das uns gänzlich gefangennimmt. „Departure Delayed“ ist der gelungene Versuch einer Vergegenwärtigung, völlig frei von Heroisierung der Verfolgten wie von Dämonisierung der Verfolger. Es ist die Geschichte einer Gefangenschaft, erzählt von Hermann, und die Geschichte einer anfänglich fast chancenlosen, schließlich aber doch geglückten Rettung, erzählt von Kate. Durch diese Trennung bzw. Aufteilung der Perspektive gelingt es den beiden, ihre je eigene damalige Welt des Elends wiederauferstehen zu lassen. Gewiß, der Leser weiß nicht nur, daß Hermann lebt, er kennt den Ort seines Kerkers ebenso wie den schließlich glücklichen Ausgang der ganzen schrecklichen Geschichte. Aber mit Kate sucht er dennoch verzweifelt nach dem Aufenthaltsort des Unglücklichen, und mit Hermann weiß er nicht, ob er diesen Ort jemals als Lebender verlassen wird. Die Suggestion, die von dieser genauen, unpathetischen, von jedem Belehrungseifer unbelasteten Geschichte ausgeht, ist unwiderstehlich. Es ist die Anziehungskraft der Wahrheit.
Hermann Field gehört nicht zu den Unbeugsamen, den Helden. Er erwägt, sich zu töten. Einmal ist er nahe daran, eigentlich fest entschlossen, das gewünschte Geständnis abzulegen. Nur um der Einsamkeit zu entrinnen, um einem Menschen – und sei es seinem Vernehmer – gegenüberstehen zu können. Seine weite Bildung, seine architektonische Phantasie, die ihn aus Strohhalmen Stadtmodelle basteln läßt, sein musikalisches Gedächtnis, seine Liebe zu jeglichen Lebewesen (Mäuse und Wespen eingeschlossen), die Disziplin, mit der er sich Gedanken an das Schicksal von Frau und Familie versagt, all das hilft ihm, nicht unterzugehen. Er lernt es, die Waffe der Ohnmächtigen zu gebrauchen: den Hungerstreik. Allmählich durchschaut er die Tricks der Vernehmer, ihre Zuckerbrot-und Peitsche-Taktik, entwickelt selbst eine ausgefeilte Technik, um Forderungen durchzusetzen. Denn eines hat er verstanden – seine Peiniger brauchen ihn noch.
Aber vielleicht wäre es mit seiner Widerstandskraft doch zu Ende gegangen, hätten die Vernehmer ihm nicht einen polnischen Leidensgenossen in die Zelle gesteckt. Einen Spitzel, könnte man denken, der dem verstockten Gefangenen die Zunge lockern soll. Aber Stanislaw Mierzenski ist kein Polizeispitzel und wird auch keiner. Die Sicherheitsbeamten, die rund um die Uhr die in deutscher Sprache geführten Gespräche der beiden abhören, erfahren eine ruckartige Erweiterung ihres Bildungshorizonts. Hermann, der progressive Quäkersohn, und Stanislaw, der antikommunistische Kämpfer der Heimatarmee AK und von mystischem Glauben erfüllter Katholik, unterrichten sich gegenseitig über eine schier unfaßbare Vielfalt von Gegenständen. Schließlich machen sie sich daran, einen Roman zu schreiben, dann noch einen (sie werden beide später publiziert werden). Sie vertrauen einander, werden Freunde, versprechen sich, nur gemeinsam das Gefängnis zu verlassen.
Der Kerkermeister wird zum Überläufer
Was weder Hermann noch Kate, wohl aber der amerikanische Geheimdienst CIA wußte: Oberst Josef Swiatlo, leitender Vernehmer Hermann Fields, von diesem „Zigarette“ genannt und aus vollem Herzen gehaßt, hatte die Seiten gewechselt. Der ehemalige stellvertretende Leiter der Sektion X des polnischen Sicherheitsministeriums, einer der wichtigsten Hilfsarbeiter der Sowjets bei der Kostruktion des „Field-Komplexes“, flüchtete Ende 1953 via Ostberlin nach den USA. Dank dieser Desertion saßen die Polen auf einer Zeitbombe. Stalin war tot, in Ungarn drohte die Rehabilitierung der 1949 Gehenkten. Von den Fields war kein Gebrauch mehr zu machen.
Aber konnte man Hermann Field gehen lassen, nachdem man der amerikanischen Regierung vier Jahre lang versichert hatte, niemand dieses Namens halte sich auf polnischem Boden auf? Schließlich verfielen die polnischn Sicherheitsleute auf den Ausweg, Josef Swiatlo (und dem CIA) die Verantwortung für die Field-Affäre in die Schuhe zu schieben. Luna Brystygierowa, ebenso schön wie klug, eine der wenigen Überlebenden des Moskauer Exils der polnischen KP und einstmals Vertraute Stalins, übernahm die Abwicklung. Hermann kam im Sommer 1954 frei, wurde entschädigt, verließ Polen. Im gleichen Sommer wurde auch Noel in Budapest entlassen und rehabilitiert. Im Gegensatz zu Hermann blieb er (bis zu seinem Tod) im Land seiner Peiniger. Ende des Jahres wurde auch Stanislaw entlassen. Luna Brystygierowa hatte Wort gehalten.
Hermann Field war der realsozialistischen Staatsmacht ausgeliefert, aber er war dennoch nicht vollständig ohne Schutz. Die polnischen Sicherheitsleute isolierten ihn und schikanierten ihn nach Kräften. Aber die brachialen, physischen Formen der Folter blieben ihm erspart. Die Fields gehörten nicht zu den Leuten, die der Regierung der USA besonders am Herzen lagen. Dennoch hat das State Department den Regierungen Polens und der Tschechoslowakei erklärt, es werde sie für die Verschwundenen haftbar machen, falls diese auf dem Territorium ihrer Länder festgehalten würden. Und diese Interventionen wurden, nicht zuletzt wegen des beharrlichen Drucks von Kate, von Verwandten, Kollegen und Freunden Hermanns, auch der Presse zugänglich gemacht. „Departure Delayed“ ist deshalb nicht nur eine spannende und anrührende Geschichte, die von Zivilcourage und Hartnäckigkeit angesichts einer scheinbar ausweglosen Lage handelt. Sie enthält darüber hinaus aktuelle Lehren im Umgang mit Regimen, die das Recht verachten. Die Angehörigen verschleppter Opfer sollten sich niemals auf „stille Diplomatie“ einlassen, und ihre Regierungen sollten aufhören, sie als Allheilmittel zu praktizieren. Read it, Kinkel!
Hermann und Kate Field: „Departure Delayed – Stalins Geisel im Kalten Krieg“. A.d. Englischen Jobst-Christian Rojahn. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1996, 568 Seiten, Abbild, 68 DM
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