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Sozialforscher auf Umwegen

Wiederentdeckt: Hans Ostwalds „Großstadt-Dokumente“, eine 50 Bände umfassende Schriftenreihe zur Situation der sozial Randständigen im aufstrebenden Berlin um die Jahrhundertwende  ■ Von Harry Nutt

Unter dem Titel „Dunkle Winkel in Berlin“ erschien 1904 ein schmaler Band über die Lebenswelt der Arbeits- und Obdachlosen, ein bis dahin wenig ausgeleuchteter Bereich der wirtschaftlich wie kulturell aufstrebenden preußischen Metropole. Erstaunlich daran war die Perspektive. Der Autor Hans Ostwald verfügte offenbar über intime Kenntnisse der Berliner Halbwelt und ihrer Lebensverhältnisse zwischen Armut und Kriminalität.

Die „Dunklen Winkel“ waren nur der Auftakt zu einer einzigartigen Schriftenreihe. Zwischen 1904 und 1908 erschienen insgesamt 50 Bände von vierzig verschiedenen Autoren, darunter der Dramaturg und Theaterkritiker Julius Bab und der Sexualforscher Magnus Hirschfeld. Die „Großstadt-Dokumente“ erkundeten Berliner und Wiener Milieus und behandelten Themen wie „Zuhältertum“, „Alkoholismus“, „Tanzlokale“, „Sport“, „Sittendelikte“ usw.

Drei Jahre lang auf Wanderschaft

Die zu ihrer Zeit populären Hefte sind heute weitgehend unbekannt. Sie finden sich nur noch vereinzelt in Bibliotheken und Büchereien. Neuauflagen wie Leo Colzes „Berliner Warenhäuser“ bei dem Verlag Fannei&Walz bilden da eine rühmliche Ausnahme. Um so verdienstvoller ist deshalb eine Arbeit, die das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) nun herausgegeben hat. Dietmar Jazbinsek und Ralf Thies haben die „Großstadt-Dokumente“ bibliographisch geordnet und auf ihren Einfluß auf die amerikanische Metropolenforschung hin untersucht. Im Mittelpunkt ihrer Recherchen steht der „Dokumente“- Herausgeber Hans Ostwald, der die Schriftenreihe stilistisch und methodisch entscheidend prägte.

Hans Ostwald wußte in den meisten Fällen, wovon seine Autoren sprachen. Der 1873 geborene Sohn eines Schmieds erlernte zunächst das Goldschmiedehandwerk und wanderte anschließend als arbeitsloser Geselle mehr als drei Jahre lang durch Norddeutschland.

Leipzig war schließlich die letzte Station seiner Wanderschaft, wo er 1897 Redakteur der Leipziger Volkszeitung wurde. Zwar in fester Stellung, blieb Ostwald jedoch den Erfahrungen seiner Vagabundenzeit treu. Er schrieb über die Gesundheitsverhältnisse der Unterschicht und arbeitete abermals als Wandergeselle, nun getarnt, um über die Unterkunfts- und Arbeitsmöglichkeiten der Tippelbrüder besser berichten zu können.

Die einschlägigen Gossenerlebnisse waren das eine, andere Einflüsse kamen aus der Wissenschaft. Von seinem Onkel, dem Leipziger Chemiker und Naturphilosophen Wilhelm Ostwald, stammte die Neigung, die Beobachtungen leichtfüßig zu systematisieren. So ordnet er in Band 35 die Berliner Unterwelt des Glücksspiels nach Orten, Spielertypen und Spielarten und gibt einen Überblick über die gängigen Tricks der Betrüger und Falschspieler.

1898 wechselte Ostwald zur linksliberalen Welt am Montag nach Berlin, zu deren Redakteuren die Soziologen Samuel Lublinski und Franz Oppenheimer ebenso gehörten wie die schriftstellernden Brüder Heinrich und Julius Hart. Ein anderer Autor in Ostwalds Umgebung war Felix Hollaender, der mit Romanen über soziale Berliner Fragen hervorgetreten war. Hollaender regte Ostwald dazu an, die Tagebücher seiner Straßenjahre literarisch zu verarbeiten. Im noch jungen Verlag des Kunstsammlers Bruno Cassirer erschien 1900 der dokumentarische Roman „Vagabonden“, der mehrere Auflagen erzielte und Ostwald dazu animierte, eine Existenz als freier Schriftsteller zu wagen.

Er schrieb Theaterstücke, Erzählungen und Skizzen. Außerdem sammelte er „Rinnsteinlieder“ und stellte ein Lexikon der Gauner-, Dirnen- und Landstreichersprache zusammen. Ein weiterer Roman, „Die Gesellen“, kam 1904 heraus, im selben Jahr veröffentlichte er außerdem eine Monographie über Maxim Gorki. Hans Ostwald war ungemein produktiv. Seine wohl bedeutendste Arbeit erschien zwischen 1905 und 1907, die auf zehn Bände angelegte Studie „Das Berliner Dirnentum“, der 1909 der voluminöse Band „Die Berlinerin“ folgte.

Idee der „sozialen Kolonialisation“

Obwohl Ostwald mit Bänden über Heinrich Zille (1929) und Max Liebermann (1930) große kommerzielle Erfolge hatte, erlahmte sein Interesse an sozialpolitischen Fragen nie. So schrieb er 1931 eine „Sittengeschichte der Inflation. Kulturdokument aus den Jahren des Marktsturzes“.

Der Sozialforscher und Publizist Hans Ostwald wollte seine Arbeit jedoch auch investigativ und praktisch verstanden wissen. Er entwickelte das Konzept der „sozialen Kolonisation“, das beabsichtigte, die Arbeitlosen aus dem Zustand des „untätigen Almosenempfängers“ herauszuholen und „Kulturarbeitsstätten“ auf dem Land einzurichten, gewissermaßen eine frühe Etablierung des ABM- Prinzips. Zwischen 1911 und 1916 gelang es Ostwald, mehrere Siedlungsprojekte nach dem Konzept der sozialen Kolonisation zu verwirklichen.

Nachdem er in einem Projekt beinahe seine ganzen Ersparnisse verloren hatte, versuchte Hans Ostwald auch nach dem Machtantritt der Nazis weiter als Autor zu bestehen. Zunächst schien die Zeit sogar günstig, seine Idee der sozialen Kolonisation wiederzubeleben. Ostwald unternahm einige Versuche, sich auch ideologisch den neuen Machthabern anzudienen. Vergebens. Er konnte zwar weiter publizieren, aber die erhoffte Anerkennung blieb ihm versagt. Hans Ostwald starb am 8. Februar 1940 im Alter von 66 Jahren.

Der Forschungsbericht von Dietmar Jazbinsek und Ralf Thies zu den „Großstadt-Dokumenten“ kann beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gegen einen Antwortumschlag sowie eine Mark in Briefmarken unter folgender Adresse bezogen werden: WZB-Versandstelle, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin

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