: Eine „kleine Kaputte“ erzählt
Ist ihre Autobiographie bloß ein sentimentales Heldinnenepos? Falls ja, „müßte ich sie noch mal schreiben“, sagt die Paralympics-Siegerin Marianne Buggenhagen ■ Von Oliver Kauer
Ein Happy-End hat das Leben der „an den Rollstuhl gefesselten“ Sportlerin ebenso geprägt wie die „Schicksalsschläge“ davor: Am 4. Dezember 1994 wurde Marianne Buggenhagen, eine damals 41 Jahre alte Krankenschwester aus Berlin, via TED von den Fernsehzuschauern zur „Sportlerin des Jahres“ gekürt. Eine herausragende, aber unbekannte Leichtathletin stach Franzi und Steffi aus. Es konnte weiland nicht eruiert werden, ob die sportlichen Erfolge der mehrfachen paralympischen Goldmedaillengewinnerin honoriert wurden oder die Leute einem vorweihnachtlichen Mitgefühlsanfall erlegen waren.
Marianne Buggenhagen glaubt fest, „daß es nicht nur eine Mitleidswahl war, sondern daß damit auch die Entwicklung des Behindertensports honoriert wurde“. Indes ärgert sie sich, „daß man ausgerechnet bei mir von der Tradition abging, die Gewinner dieser Wahl ins ,Sportstudio‘ einzuladen.“ Eine Anfrage vom „Gesundheitsmagazin“ lehnte sie ab.
Im Sportverlag Berlin ist nun ihre Autobiographie erschienen: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt“ ist weniger ein Buch über den Sport einer Sportlerin. Vielmehr geht es um die Lebensgeschichte einer Frau, für die der Sport nicht zuletzt Lebenshilfe war („Wenn ich den Sport nicht gehabt hätte, wäre ich im Pflegeheim gelandet oder asozial geworden“). Der Titel sensibilisiert. Ein Heldinnenepos mit tragischem Verlauf, das im Guten endet, ein Stoff, aus dem Filme gemacht werden?
Ohne Hemmungen erzählt Buggenhagen ihre Geschichte vor allem mit viel Gefühl. Von dem kleinen zu großen Mädchen mit den Segelohren, dem alkoholsüchtigen Vater, der Liebe zur fürsorgenden Mutter, der ersten sportlichen Karriere als durchschnittliche Volleyballerin, der schmerzhaften Entstehung der Querschnittslähmung, der aufreibenden Rehabilitation. Dann kommt die Wende zum Besseren: Mann, erfüllender Beruf als Sozialtherapeutin – und schließlich das Ende ihres Staates, der an Behindertensport nicht interessiert war. Während der Paralympics von Seoul 1988 war sie wütend zu Hause gesessen und hatte gedacht: „Du könntest jetzt mehrfache Olympiasiegerin sein.“ Dann fiel die Mauer. Buggenhagen wurde Sportstar, bekam Ehrungen, Anerkennung.
Die Behinderung ist allgegenwärtig. „Sie muß sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen, weil sie zu meinem Leben gehört“, sagt Buggenhagen. Kann man über die eigene Behinderung anders schreiben, als sie es getan hat? Anders, als sie Bild verstand? „Unsere tapferste Sportlerin – Mein ganzes schweres Leben – Rollstuhl, Alkohol, Selbstmordversuch, aber trotzdem Sieg“, war deren tränendrüsenanregende Überschrift eines halbseitigen Porträts. Ist Marianne Buggenhagen zusammen mit dem ihre Erzählungen aufzeichnenden Journalisten Klaus Weise unbewußt in die sentimentale Schicksalsecke geschlittert? Sie sagt: „Das wäre das Schlimmste, was mir hätte passieren können. Wenn doch, müßte ich das Buch noch mal neu schreiben. Ich wollte einfach die Person Marianne Buggenhagen darstellen, nicht die Behinderung. Ich wollte zeigen, daß ich ganz normal bin.“ Nehmen wir zwei Möglichkeiten an, wie das Buch beim nichtbehinderten Leser ankommt.
Möglichkeit eins: Mitleid. Nichtbehinderte können es nicht anders rezipieren. Mitleid wird allein schon durch die Tatsache der Behinderung erregt, wie sie auch beschrieben wird. Die nackten Fakten machen „betroffen“ – die Rezeption des Lesers überwölbt den Text. Andererseits kann der Text die Mitleidsrezeption steuern. Das tun Sätze wie dieser (auch wenn sie das sarkastisch meint): „Nimmt man alle Ereignisse, die die allgemeine menschliche Bewertung als ,Unglück‘ faßt, dann scheint es mir manchmal rückblickend, als sei ich von einer höheren Macht dazu auserkoren, einen möglichst großen Anteil davon abzubekommen.“ Solche Sätze appellieren ans Mitgefühl, erregen Wohlgefallen an der aus der Distanz betrachteten Person, die damit Außenseiterin bleibt. Nach wie vor determiniert Mitleid die Behandlung und Rezeption des Behindertensports.
Für nichtbehinderte Journalisten und Rezipienten ist es eine der Möglichkeiten, mit der Verunsicherung im Umgang mit behinderten Menschen fertig zu werden.
Möglichkeit zwei: Aufklärung. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt“ ist voller Sätze, die Nichtbehinderte zum Nachdenken über ihren Umgang mit Behinderten anregen sollen: „Oft ist zu lesen, ich sei an den Rollstuhl gefesselt – ein Anachronismus: Das Gefährt sichert mir ja gerade meine Mobilität, wenn sie mir nicht durch architektonische Barrieren oder andere Menschen genommen wird.“
Als Sportpersönlichkeit könnte Buggenhagen auch über ein Buch daran arbeiten, die Gleichbehandlung vorantreiben. Sie ist als exponierte deutsche Behindertensportlerin auch Stellvertreterin für andere Behinderte, „die nur nicht die gleiche Möglichkeit haben, sich zu artikulieren, aber ihr Leben ebenso großartig meistern“. Mit- Leiden statt Mitleid.
Marianne Buggenhagens Autobiographie sollen „Erlebnisse einer ,kleinen Kaputten‘“ sein, „die im besten Falle Nachdenken machen sollen: Schönes und Grausames, Wichtiges und Nichtiges, Lustiges und Trauriges“. Gefühlvolles eben.
Obgleich „Ich bin von Kopf bis Fuß“ wegen sportlicher Erfolge geschrieben wurde, läßt es sich nur mit der Behinderung verkaufen. „Eventuell werde ich über mein Sportleben noch ein Buch schreiben“, sagt Marianne Buggenhagen. Darauf hoffen wir.
Marianne Buggenhagen: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Leben eingestellt: die Autobiographie“. Aufgeschrieben von Klaus Weise. Verlag Sport und Gesundheit, Berlin 1996. 160 Seiten, 29,80 Mark
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