Viereinhalb Wochen hielten Entführer den Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma im letzten Frühjahr angekettet in einem Keller fest. Sie erpreßten 30 Millionen Mark Lösegeld. Heute beginnt in Hamburg der Prozeß gegen zwei der Täter. Ihr Opfer

Viereinhalb Wochen hielten Entführer den Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma im letzten Frühjahr angekettet in einem Keller fest. Sie erpreßten 30 Millionen Mark Lösegeld. Heute beginnt in Hamburg der Prozeß gegen zwei der Täter. Ihr Opfer hat über seine Leidenszeit das Buch „Im Keller“ geschrieben. Nun nimmt er auf der Nebenklagebank Platz. Er will endlich

Den Tätern in die Augen sehen können

Als Zeuge ist das Entführungsopfer erst für den 21. und 27. Januar geladen. Doch Jan Philipp Reemtsma wird bereits heute, zum Auftakt des Prozesses gegen zwei seiner vermutlich drei Entführer, auf der Nebenklägerbank neben seinem Freund und Anwalt Johann Gerhard Schwenn Platz nehmen. Der 44jährige Chef des renommierten Hamburger Instituts für Sozialforschung und Millionenerbe will sich einer Situation aussetzen, die er sich nach seiner Freilassung am 26. April vorigen Jahres gewünscht hat: „Ich will diese Leute vor Gericht sehen.“ Und: „Ich möchte denen gerne in die Augen sehen.“

Milde ist dabei Reemtsmas Sache nicht. In einem Interview, das er kurz nach dem Ende seiner Entführungshaft der Süddeutschen Zeitung gab, sagte er klar: „Ich finde, daß Verbrechen dieser Art hart bestraft gehören. Natürlich verspürt man auch Genugtuung, wenn Personen, die einem selbst und der eigenen Familie so etwas angetan haben, dafür büßen müssen. Darüber hinaus bringt eine Bestrafung wieder etwas ins Lot.“

Thomas Drach, der mutmaßliche Drahtzieher des Kidnappings, steht allerdings nicht als Angeklagter vor der 16. Großen Strafkammer des Hamburger Landgerichts. Der Mann konnte noch nicht gefaßt werden; die Ermittlungsbehörden haben selbst über seinen Aufenthaltsort kaum Anhaltspunkte. Auch vom Lösegeld fehlt fast jede Spur. Der Verdacht, daß es auf österreichischen Konten zwischenlagert, reicht den Wiener Kollegen der hanseatischen Ermittler nicht – er sei zu vage, um sich an den Schließfächern zu vergehen.

Verantworten müssen sich von heute an lediglich die beiden Mittäter, der 59jährige Peter Richter aus Leverkusen und der 54jährige Wolfgang Koszics. In der 126 Seiten starken Anklageschrift wirft die Staatsanwaltschaft Richter Gehilfenschaft vor, Koszics die Mittäterschaft an einer der spektakulärsten Entführungsfälle in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Prozeß ist vorläufig auf zehn Verhandlungstage terminiert.

Beide Angeklagten sind – nicht zuletzt der lückenlosen Ermittlungen wegen – geständig. Strittig und verhandlungsbedürftig ist nur, wer für welches Delikt in welcher Schwere verantwortlich ist. Koszics muß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsentzug rechnen, sein Kumpan mit Haft nicht unter zwei Jahren. Die Verhandlung findet nicht im Hamburger Gerichtsviertel statt, sondern in einer für die Justiz angemieteten Büroetage in der City Nord.

Am spannendsten werden freilich die Tage, an denen das Opfer zu Wort kommt. Reemtsma hat über seine 33 Tage Gefangenschaft inzwischen einen Bericht verfaßt: „Im Keller“ heißt er und erscheint Mitte des Monats in seinem institutseigenen Verlag. Es ist das ehrliche, auch für den Leser bis zur mitfühlenden Pein aufrichtige Dokument einer erst brachialen Erniedrigung und schließlich seelisch nur mit Not aushaltbaren Demütigung.

Sie begann am Abend des 25. März 1996, als Reemtsma auf dem Weg von seinem Wohnhaus in seinem Studierpavillon überwältigt und verschleppt wird, und endet am 26. April mit der Freilassung. Während dieser viereinhalb Wochen erfährt die Öffentlichkeit kein Wort. Mehrmals mußte die Sonderkommission Hamburger Redaktionen davon abhalten, die Geschichte publik zu machen. Es sind Tage der Ungewißheit. Mehrmals schaltet Reemtsmas Frau Ann-Kathrin kodierte Anzeigen in der Hamburger Morgenpost; zweimal scheitert die Übergabe des Lösegeld in Höhe von 30 Millionen Mark. Erst mit Hilfe von zwei Freunden aus der Unterstützerszene des autonomen Wohnprojekts an der Hamburger Hafenstraße gelingt es, das 40 Kilogramm schwere Geldpaket so zu plazieren, daß die Entführer nicht mit einer sofortigen Festnahme durch die Polizei rechnen mußten. Nur so, resümiert Reemtsma, war es seinen Enführern – für die er eine Ware war, die es gegen eine hohe Gage auszulösen galt – möglich, ihn am Leben zu lassen.

Reemtsma, „ernst, gebildet und voller Moral“ (Die Woche), hat über diese Sorte Mensch „dissoziierter Individuen“ selbst in vielen seiner Aufsätze geschrieben: Zu deren Charakteristik gehöre „hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bei extrem reduziertem Gefühl für Kontinuität und Verantwortung, Gut und Böse.“ Nach allem, was die Polizei über den flüchtigen Thomas Drach weiß, trifft diese Skizze auf ihn zu.

Bewegend könnte der Prozeß auch dann werden, wenn die Angeklagten mehr berichten als lediglich technische Details über die Logistik ihres Verbrechens. Wenn sie Auskunft geben könnten über ihre Gefühle. Darüber, ob sie in Reemtsma überhaupt einen Menschen sahen, einen, der extrem unter seiner Situation und durch sie litt, auch weil er nie wußte, am Leben bleiben zu dürfen oder nicht.

Reemtsma hat nach seiner Freilassung gleich gewußt, daß „ein Stück Welt“ in ihm „kaputtgegangen“ sei. Koszics und Richter haben die Chance, ein Bruchstück davon wieder zusammensetzen zu helfen: Wenn sie redlich sprechen und mehr wollen als einen günstigen Urteilsspruch. Jan Feddersen