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Der asiatische Tiger hat inzwischen Zahnlücken

■ Süd-Koreas Image eines aufstrebenden High-Tech-Industrielandes verblaßt: Exporteinbuße und eine korruptionsgeprägte Industriepolitik bremsen Wachstum

„Wir können auf der internationalen Bühne nicht mehr in 43 Jahre alten Kleidern antreten.“ Mit diesen Worten rechtfertigt Süd-Koreas Präsident Kim Young Sam das umstrittene neue Arbeitsgesetz, das die über 40 Jahre alte Gesetzgebung ablöst. Ironischerweise sind sich die Gewerkschaften mit dem Präsidenten einig, daß es dringender Reformen bedarf. Aber die Gewerkschafter setzen naturgemäß andere Prioritäten.

Zu den jetzigen Streiks und Demonstrationen hat geführt, daß Regierung und Arbeiter in zwei wesentlichen Fragen uneinig sind: Wie soll sich Süd-Koreas Wirtschaft im Zeitalter der Globalisierung positionieren? Wie sollen Gesetze zu harmonischen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften beitragen? Die Globalisierung, also die wachsende Integration der Weltwirtschaft, scheint für Süd-Korea auf den ersten Blick eher ein Erfolg als ein Problem zu sein. Das Land ist fest in der Weltwirtschaft verankert. Es trat im letzten Jahr dem Club der Industrieländer, der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), als neuntgrößtes Mitglied bei. Die koreanischen Großkonzerne wie Hyundai, Daewoo, Samsung und die Lucky Goldstar Gruppe sind dominierende Kräfte auf den fernöstlichen Märkten und spielen auch in Zentralasien sowie im westlichen und östlichen Europa eine wachsende Rolle; Daewoos aggressives Marketing in Polen und Weißrußland etwa zeigt das sehr deutlich.

Aber Koreas Image als brüllender Tiger verblaßt. Zu wirtschaftlichen Strukturproblemen kam im letzten Jahr ein Wachstumsrückgang durch einen Einbruch bei den Exporten. Die Wirtschaft ist in einem Wandlungsprozeß: weg von der Abhängigkeit von niedrigen Löhnen und einfacher Technologie wie der Textilindustrie. Korea hat bereits viele High-Tech-Industrien entwickelt und ist von Schiffen bis Mikrochips ein führender Produzent.

Doch nach wie vor werden nicht zuletzt wegen der früheren Militärherrschaft die Industriepolitik, der internationale Handel und die Finanzmärkte noch streng kontrolliert. Die Großkonzerne dominieren die heimische Wirtschaft und sichern sich ihre Position durch enge, oft korrupte Beziehungen zu Politikern. Nach Meinung von Wirtschaftswissenschaftlern führt dies zu weniger Wettbewerb, höheren Preisen und niedriger Produktivität. So liegt Süd-Korea in einem kürzlich veröffentlichten internationalen Produktivitätsvergleich nur auf dem 27. Rang.

Wegen der aktuellen Streiks belaufen sich die Produktionsverluste nach neuesten Angaben des Handelsministeriums inzwischen auf umgerechnet 3,2 Milliarden Mark. Am stärksten betroffen seien die Autoindustrie, der Maschinenbau und die Werften. Allein die Autoindustrie beziffert ihre Verluste auf insgesamt 1,65 Milliarden Dollar. Sechs der 70 größten Unternehmen des Landes haben die Produktion wegen der Streiks ganz ausgesetzt.

Präsident Kim will durch das neue Gesetz den Arbeitsmarkt flexibler machen und die Produktivität erhöhen. Aber die Gewerkschaften haben zwei Einwände: Erstens werde die den Arbeitgebern gegeben Möglichkeit, Arbeiter leichter zu entlassen und Streikbrecher einzustellen, dazu führen, daß langfristig die Unsicherheit unter den Arbeitnehmern wächst (Süd-Korea kennt keine soziale Sicherheit für Arbeitslose). Zweitens widersprechen die Gewerkschaftsführer dem offiziellen Mythos, bisher hätten alle Koreaner eine lebenslange Anstellung bei hohem Lohn. Dies trifft nur für diejenigen zu, die bei den Großkonzernen und mit ihnen verbundenen Firmen arbeiten, von denen jetzt viele bestreikt werden. Die meisten Arbeiter und Angestellten sowie die Tausenden von illegalen asiatischen Migranten im Land haben nur eine begrenzte Jobsicherheit und leiden unter schlechten Arbeitsbedingungen und langen Arbeitszeiten.

Weit emotionaler sind die Differenzen zwischen Gewerkschaften und Regierung in einem weiteren Punkt. Sowohl die 500.000 Mitglieder zählende KCTU, als auch die moderate FKTU mit ihren 1,2 Millionen Mitgliedern fühlen sich von Kims Regierung in der Frage der Gewerkschaftsrechte hintergangen. Im Oktober hatte Seoul in den langwieriegen OECD-Beitrittsgesprächen zugestanden, die Arbeitsgesetze vor allem in der Frage der Organisationsfreiheit und der Tarifverhandlungen an internationale Standards anzupassen. Gewerkschaften und internationale Beobachter sind der Meinung, daß mit dem neuen Gesetz die Zusagen gebrochen wurden. Zwar sollen die Möglichkeiten der Organisierung von Gewerkschaften gelockert werden, aber gleichzeitig wird das Inkrafttreten dieser Maßnahmen um bis zu fünf Jahre verschoben, wie es Unternehmer explizit gefordert hatten. Außerdem enthält das Gesetz auch gewerkschaftsfeindliche Paragraphen wie zum Beispiel, daß entlassene Arbeiter nicht mehr Mitglied in einer Gewerkschaft sein dürfen.

Der jetzige Kampf der „illegalen“ Gewerkschaft KCTU erinnert an die Protestbewegung, die zur Gründung der Gewerkschaft führte. 1987 hatten große Streiks zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen geführt. Die damals vollständig vom Staat kontrollierte FKTU wurde in die Defensive gezwungen und hat schließlich mit dazubeitragen, das Militärregime zu stürzen. Laut KCTU sind ihr seitdem 90 Prozent aller neugegründeten Betriebsgewerkschaften beigetreten. Diese Unabhängigkeit ist der Regierung in Seoul ein Dorn im Auge, ist sie doch gerade dabei, demokratische Errungenschaften wieder einzuschränken; mit der Anerkennung der KCTU hat sie dementsprechend keine Eile. Nach dem alten Arbeitsgesetz war pro Betrieb nur eine Gewerkschaft und landesweit nur ein Verband zugelassen. Seit Jahren kämpft die KCTU um die Anerkennung und mit der jetzt erfolgten Verschiebung bis zum Jahr 2002 ist die Verärgerung umso größer. Die Gewerkschaftsführer befürchten, daß bis dahin auf Betriebsebene die Unternehmer die KCTU-Gewerkschaften schwächen werden. Hugh Williamson

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