: Sommersprossig
Sandrine Kiberlain bricht die Herzen in Laetitia Massons Debütfilm „Haben (oder nicht)“ ■ Von Andreas Becker
Nach der Vorstellung des Films bei der letztjährigen Berlinale ging ein Raunen durch das Berliner Delphi-Kino, als sei einigen Zuschauern für eine Hundertstelsekunde das Herz stehengeblieben. Sandrine Kiberlain anderthalb Stunden auf der Leinwand zuzusehen und sie dann auch noch (gemeinsam mit der Regisseurin Laetitia Masson) livehaftig zur Diskussion des Films zu treffen, das schien fast zuviel des Glücks. Man entschuldige das Pathos, aber „Haben (oder nicht)“ ist ein Spielfilmdebüt, das den Zuschauer atemlos einer „müden Giraffe“ folgen läßt.
Das mag wenig sagen, aber „Haben (oder nicht)“ handelt von der Liebe und vom Leben. Von der Möglichkeit der Liebe und ihrer Unmöglichkeit. Der Ungleichzeitigkeit von Gefühlen, die wie zwei Puzzleteile eigentlich zusammengehören, aber nicht passen wollen.
Die Liebe aber existiert nicht im luftleeren Raum, sondern in einem, ähm, sozialen Geflecht. So zeigt uns die beim Drehen des Films 28jährige französische Regisseurin zu Beginn des Films Frauen, die sich um eine Stelle bewerben. Wie in hintereinandergeschnittenen Firmenvideos beantworten sie die Fragen eines unsichtbaren Personalchefs: „Was ist ihr Traum?“ „Chefsekretärin sein!“
Als Alice ihren Job in einer Fischfabrik in Boulogne sur Mer verliert – nach der Arbeit riecht sie an ihrer Hand und duscht, als hätte sie mit einem ekligen Kerl Sex gehabt –, betrinkt sie sich mit Champagner und spricht mit den Fotos ihres Freundes an der Wand, die sich durch nichts provozieren lassen: „Wir müssen uns trennen. Wir könnten auch tanzen gehen.“
Dann trinkt sie mit ihrer Freundin weiter, die in einem Imbißwagen jobbt und fragt: „Vögelst du oft mit deinem Freund?“ Alice hat keine Lust mehr auf ihren Freund, und der, den sie will, will sie nicht. Die Profanität des Alltags und der Aufbruch einer 26jährigen ins ganz normale und doch irre aufregende Leben. Einen Job haben, einen Freund, eine bezahlbare Wohnung, Sex haben, mit dem, den ich will – (oder nicht). Nicht Sein oder Nichtsein ist für Alice die Frage. Eher: Wenn ich schon nicht mal mehr einen beschissenen Job habe, kann ich dann nicht wenigstens sein, wie ich bin? Der gemeine, doppelt so alte Personalchef läßt sie beim Einstellungsgespräch ein Lied singen. Erst weigert sie sich, aber dann tut sie es weinend. Und doch gelingt es der wundervollen sommersprossigen Alice („Ich bin eine müde Giraffe“, sagt sie einem erfolglosen Verehrer im Café), die Machtverhältnisse fast unmerklich umzudrehen. Als sie den Chef in spe zufällig in einer Strandbar trifft, läßt sie sich zunächst widerwillig von ihm zum Schampus einladen, dann klingelt dessen Handy, und er wimmelt seine Frau ab. Alices Gesicht taut langsam auf, aus Unglück wird die Ahnung von Glück, die klitzekleine Riesenchance, das Spiel selbst zu spielen, die Regeln selbst zu bestimmen. „Trinken wir auf den Betrug und auf die Handys“, sagt sie. Er, unsicher: „Auf die Handys.“ Später, im Auto, ist es völlig egal, ob ihr dieser Typ je einen Job geben wird oder nicht: „Nicht Sie bumsen mich, ich bumse Sie!“
Man verzeihe die Übertreibung (bin ich verliebt in eine Giraffe?), aber allein die feinen Nuancen ihres Lächelns lassen es fast unmöglich erscheinen, daß Sandrine Kiberlain die Alice tatsächlich „spielt“. Das hat nichts mit Authentizitätsgerede zu tun. Es ist einfach nur so: Alice haut mich um, ich bin unfähig, diese Frau mit Worten zu beschreiben, eigentlich möchte ich nicht einmal, daß, außer mir, jemand sie sieht. Also, vergessen Sie sie schnell!
Alice geht in die Stadt, zieht ins Hotel Ideal, das von Arabern geleitet wird und eine putzmuntere Putzfrau hat, die täglich neu beim Fegen des krümeligen Speisesaals versucht, zwischen unfähig Liebenden zu vermitteln. Die Liebe ist ein Mißverständnis: Der Unbekannte im Café nervt Alice, weil er sie kennenlernen will. Und Bruno, der selbst den ganzen Tag lang auf der Suche nach Nähe war und sich diese bei einer Hure immerhin 15 Minuten erkaufen konnte, was ihn natürlich nur noch trauriger gemacht hat, reagiert mißtrauisch, als Alice ihr Interesse kundtut. Als sie an der langen Hotelbar an ihrem Cocktail nippt und einfach aus Spaß mit Bruno reden möchte, bringt er es fertig, ihr zu sagen, sie solle sich doch zu den Geschäftsleuten da drüben setzen, wenn sie unbedingt jemanden kennenlernen will. Alice geht allein aufs Zimmer. Bruno schiebt seinen Whiskey beiseite und saugt den letzten Schluck ihres Cocktails aus dem Strohhalm.
Allein für diese mehrere Minuten lange Szene liebe ich Alice, die Regisseurin, sogar den ungeschickten, sein eigenes Begehren verachtenden Bruno und den Beleuchter, der Alices Gesicht wie eine Kerzenflamme aufscheinen läßt. Wundervoll!
„Haben (oder nicht)“. Regie: Laetitia Masson. Mit: Sandrine Kiberlain, Arnaud Giovanitti u.a. Frankreich 1995, 90 Min.
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