: Ein quietschvergnügter Mikrokosmos
An der Fachhochschule Potsdam läuft Deutschlands erster Studiengang für Gehörlose. Dolmetscher übersetzen die Seminare in Gebärdensprache. Auch wenn das manchen Pädagogen nicht paßt ■ Von Constanze von Bullion
Als würde sie auftauchen aus dem Wasser. Sie reißt den Mund auf, holt tief Luft, schnalzt mit der Zunge und wirft den Kopf in den Nacken. Die Augenbrauen schnellen mit einem Ruck nach oben. Zehn Finger trommeln ein rasendes Staccato in die Luft. Bis alle am Tisch losprusten. Ziemlich komisch die Geschichte, die Nicole Danielzik da erzählt. Kapiert haben sie allerdings nur die Eingeweihten. Vier junge Frauen, die sich beim Pausenschnack im Politikseminar mit Gebärden unterhalten. Und darauf pfeifen, daß die an den Nachbartischen nicht mitlachen können. Sie werden's schon noch hinkriegen, die Hörenden. Schließlich läuft er erst seit drei Monaten – Deutschlands erster Modellstudiengang für Gehörlose in Potsdam, kurz PotsMods.
Ein schlechter Witz eigentlich. Nicht, daß an der Fachhochschule Potsdam gehörlose StudentInnen ihr Diplom als Sozialpädagogen machen. Auch nicht, daß ihnen bei PotsMods neben zwei Dozenten und einer Sekretärin auch zwei GebärdendolmetscherInnen und sieben TutorInnen zur Seite stehen. Ein schlechter Witz ist, daß Brandenburg bisher als einziges Bundesland die Integration Gehörloser an der Hochschule finanziert – für 13 Studierende.
Dabei steigt die Nachfrage. Die schweigende Minderheit, die früher „taubstumm“ hieß, drängt in qualifizierte Jobs. Rund acht Millionen Menschen mit Hörproblemen leben in Deutschland. Rund 80.000 sind gehörlos geboren oder haben als Säugling zu letztenmal den Klang einer Stimme, den Sound einer Gitarre, das Quietschen der U-Bahn gehört. Abitur und Studium schaffen die wenigsten. Das liegt oft an mangelnder Förderung. Aber auch an Grabenkämpfen in den eigenen Reihen.
„Die werden dumm gemacht“, sagt Gudrun Hillert, „die Ausbildung für Gehörlose ist miserabel.“ Die schlaksige 27jährige mit der dunkelblonden Walkürenfrisur hat in Hamburg Gebärdendolmetschen studiert. Jetzt drängelt sie sich mit zukünftigen ArchitektInnen, BauingenieurInnen und SozialarbeiterInnen durch die Glastür der Fachhochschule Potsdam. Neben der Grünspankuppel der Nikolaikirche sieht der bröckelige Neubau aus wie ein Raumschiff von fernen Planeten.
„Alternativen der deutschen Vereinigungspolitik“ heißt das Seminar, in dem sich an diesem Montagmorgen 15 Studierende den Schlaf aus den Augen reiben. Unter grellen Neonröhren packen zehn von ihnen den Kugelschreiber aus: die Hörenden. Vier haben kein Heft dabei: die Nichthörenden. Eine im Batman-Hemd schreibt für sie mit: die Tutorin. Und einer mit Dreitagebart spricht über die „Stasi als pervertiertes Herrschaftsinstrument im Staatssozialismus“: der Dozent.
Während die zehn mit dem Stift ganz Ohr sind, sind die vier ohne Heft ganz Auge. Lassen sich keinen der blitzschnellen Fingerwirbel entgehen, keine Mundbewegung von Gudrun Hillert, die sich vor die Tafel gesetzt hat und simultan dolmetscht. Bis sie die Hände sinken läßt und an ihren Kollegen Christian Pflugfelder übergibt. Gebärdensprache ist Sport. Rund 30 verschiedene Grundstellungen gibt es allein für die Hände. Zum Fingeralphabet, mit dem Namen wie „Schalk-Golodkowski“ in den Raum buchstabiert werden, kommen Richtungsgesten, Mimik und Bewegungen. „Mit Grammatik“, sagt Gudrun Hillert, „hat das so gut wie nichts zu tun.“
Kann man Begriffe wie „Kommerzielle Koordinierung“ oder „eindeutige Focussierung auf Informelle Mitarbeiter“ in Gebärden ausdrücken? Man kann. Ob man sollte, das ist umstritten. Als „Affensprache“ wurden die Gebärden lange diffamiert, anerkannt sind sie bis heute nicht. Weil manche Leute peinlich berührt sind: von fuchtelnden Händen, rausgestreckten Zungen, unzweideutigen Gesten, die sich „nicht gehören“ – und Hörende ratlos zurücklassen.
„In der Schule war Gebärdensprache verboten“, erzählt Nicole Danielzik, die taub geboren ist, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft Röteln hatte. „Ich habe das auf dem Schulhof gelernt.“ Die 23jährige Studentin mit den energischen Gesten und dem Hörgerät unter den schwarzen Haaren, kann wählen: ob sie mit den Händen oder dem Mund redet. Das „Absehen“, also Lippenlesen und Nachsprechen, hat man ihr auf der Gehörlosenschule in Aachen beigebracht. „Ich kann lautsprachlich reden“, sagt sie, „aber nicht besonders toll.“
Nicht besonders toll ist für viele Gehörlose, was bei 200 Jahren Hörgeschädigten-Pädagogik rausgekommen ist. Die Theoretiker der Taubstummen stehen sich seit dem 18. Jahrhundert recht unversöhnlich gegenüber. 1770 entwickelte der Pariser Geistliche Charles de l'Epée die erste Gebärdensprache. Acht Jahre später antwortete ihm Samuel Heinicke mit einer Lehranstalt in Leipzig, die streng nach der Ablese-Methode vorging. Erziehung zu „normalem Sprechen“ ist seither das Konzept deutscher Pädagogen. Erfolgreich ist es selten. „Ich habe früher gar nicht gewußt, was Kommunikation ist“, sagt Nicole Danielzik und lacht.
Blumenkohlwolken ziehen inzwischen durchs Haus, in der Mensa trifft man sich zum Mittagessen. Und während auf den Tellern überbackene Maultaschen kalt werden, erzählen die Hände vom langen Weg zur Hochschule.
„Klar können wir auch woanders studieren“, sagt Katja Fischer aus dem sächsischen Plauen, „aber dann müssen wir uns die Dolmetscher selbst organisieren. Da ist es sehr schwierig, sich allein durchzubeißen.“ Die Studentin mit den hellen, schnellen Augen hat das Gehör durch eine Gehirnhautentzündung verloren. Da war sie anderthalb und konnte kaum ein Wort sprechen. Frühförderung, Gehörlosenschule Leipzig, dann medizinische Fachschule Dresden: An Unterstützung ließen es die DDR-Pädagogen nicht fehlen. Sie bildeten Gehörlose zu Näherinnen und Tischlern, zu Hauswirtschafterinnen und technischen Zeichnern aus. Aber Katja Fischer wollte mehr. „Drei Jahre als Zahntechnikerin, das hat mir nicht gefallen. Ich wollte mit dem Kopf arbeiten.“
Ein Dilemma ist für viele Gehörlose die Schriftsprache. Wer Satzbau und Wortschatz nicht durch akustische Dauerberieselung erlernt, für den bleibt Sprache eine abstrakte Formelkette. Und beim Lippenlesen erkennen Gehörlose nur 30 Prozent der Laute. Ob das Wort „Mutter“ oder „Butter“ heißt, ergibt erst der Zusammenhang. Kein Wunder also, daß komplizierte Themen auf der Strecke bleiben. „Die Zeitung“, bestätigt Katja Fischer, „kann ich erst jetzt einigermaßen lesen.“
Den Ärger mit Texten und Seminararbeiten kennt Projektleiter Jens Heßman: „Wir machen Förderkurse in Deutsch. Aber vielleicht könnte man eine Diplomarbeit mal in Gebärdensprache auf Video festhalten.“ An Ideen fehlt es nicht bei PotsMots. Nur an Geld.
Daß Integration eine Frage des Geldbeutels ist, wissen die Potsdamer Studentinnen längst. Am runden Tisch im PotsMods-Büro, wo am Nachmittag der Seminarstoff nachgearbeitet wird, zählen sie die teuren Geräte auf, die ihnen den Alltag erleichtern: ein Wecker, der blinkt. Eine Türklingel, die blitzt. Ein Schreibtelefon, das eine Tischlampe anschaltet, statt zu läuten. „Es ist nicht einfach, das alles zu bekommen“, meint Nicole Danielzik, „da habe ich mich schon unheimlich oft geärgert.“ Während sich über Schreibtelefone endlose Streitereien mit den Kassen entzünden, wird das teuerste aller Hilfsmittel immer öfter bezahlt: das Cochlea-Implantat, kurz CI. 80.000 Mark kostet das umstrittene „künstliche Ohr“ inklusive Operation.
„Solche Eingriffe sind optimal im Kleinkindalter“, meint Timo Stöver, CI-Berater an der Medizinischen Hochschule Hannover. Rund 160 Minisender werden jedes Jahr hier implantiert. An Operationsrisiken läßt man sich da nur ungern erinnern. „Sicher“, gibt Stöver zu, „das CI kann kaputt gehen bei einem Sturz. Es kann sich entzünden. Und beim Einsetzen wird in seltenen Fällen der Gesichtsnerv durchtrennt.“ Aber: „Schließlich werden aus den Patienten arbeitsfähige, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft.“
Vollwertig. Arbeitsfähig. Funktionstüchtig. Fallen Gehörlose nicht unter diese Rubrik? In Potsdam regt man sich über solche Sprüche immer seltener auf. „Ich will so ein Teil nicht im Kopf haben, das ist gespenstisch“, hat Lela Cotarac entschieden. Die 23jährige Kölnerin kennt die Tortur einer Operation. Seit 1994 aus ihrem linken Ohr ein Tumor entfernt wurde, ist eine Gesichtshälfte gelähmt. Hören wird sie nur so lange, bis auch das zweite Ohr unters Messer kommt. „Ich muß mich auf die stille Welt einstellen“, sagt die Studentin und wirft einen entschlossenen Blick in die Runde, „aber ich habe keine Angst. Weil ich jetzt die Gebärdensprache habe.“
Das klingt nach Trotz, nach Runterspielen. Ist es aber nicht. Lela Cotarac hat durch ihre Krankheit eine Szene entdeckt, die sich nicht als weinerliche Minderheit, sondern quietschvergnügter Mikrokosmos gibt, der seine eigene Sprache gefunden hat. Ob Erzählwettbewerb oder Theater, ob schwule Clubs, Lesbentreffs oder Deaf Rave: In der Szene jagen sich die Partytermine.
„Ich habe nicht das Gefühl, mir fehlt etwas“, faßt Katja Fischer zusammen. „Gehörlos sein, das ist eine ganz starke Identität.“ Eine Beratungsstelle für hörgeschädigte Jugendliche will sie nach dem Studium eröffnen. Damit die Kids rechtzeitig erfahren, wo die Post abgeht. Und nicht mehr auf die Lehrer hören.
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