: Kein Weltanschauungsgedröhne
■ "Wir glauben nicht mehr an die Intellektuellen" - heute wird der "Merkur", die "Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken", 50 Jahre alt. Ein Gespräch mit dem Herausgeber Kurt Scheel
Im Gegensatz zu anderen Publikationen aus dem Jahr 1947, die vor Bekenntnisdrang nur so donnern, klingt es aus der ersten Ausgabe des „Merkur“ eher leise...
Kurt Scheel: Das ganze Weltanschauungsgedröhne war dem Herausgeber Hans Paeschke zuwider, und das war, wie sich herausstellte, auch eine gute Entscheidung. Alle Zeitschriften, die sehr programmatisch waren, sind eingegangen, sobald sie dieses Programm abgeschlossen hatten. Beispielsweise die Frankfurter Hefte; das Diffuse hat dem Merkur gutgetan. Deshalb findet sich auch in der ersten Ausgabe ein Aufsatz von Lessing, in dem er Wielands Teutschen Merkur ein wenig zaust: Auf diese Mischung, den Ironiker Wieland und den Aufklärer Lessing, kam es Paeschke an.
Warum gab gerade der „Teutsche Merkur“ das Vorbild ab?
Aus zwei Gründen: zum einen, weil es die wichtigste Zeitschrift der Aufklärung war, zum zweiten war Paeschke auch das „teutsch“ wichtig. Der Untertitel lautet ja bis heute „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“. Das klingt mittlerweile etwas kurios, hatte damals aber seinen guten Sinn. Das „deutsch“ sollte bedeuten, wir können uns nicht aus der deutschen Verantwortung für die Nazizeit rausstehlen, sondern müssen im Gegenteil offensiv damit umgehen. Das „europäisch“ sollte signalisieren, daß wir nicht mehr glauben, am deutschen Wesen solle die Welt genesen. Das ist dann sozusagen die offizielle Politik der Bundesrepubik geworden, und heute könnte man eher kritisieren, daß über die Jahrzehnte das eine vom andern kaum noch getrennt wird.
Als es um die Rolle des Intellektuellen ging, zitierte Paeschke das Beispiel von Rousseau, der seine Kinder ins Findelheim gibt, um einen Aufsatz über Erziehung zu schreiben – was stand da für ein Modell von Intellektuellem und Öffentlichkeit dahinter?
Paeschke kam aus einer Pastorenfamilie und war von daher sehr auf Fragen der Moral fixiert, was aber in der Zeitschrift dann nicht mehr so eine Rolle spielte. Der Merkur war eigentlich bis Mitte der achtziger Jahre eine klassische Zeitschrift von Intellektuellen für Intellektuelle. Wir sind zwar immer noch eine Zeitschrift für Intellektuelle, aber wir glauben nicht mehr an sie. Es ist zu einem zentralen Thema unserer Arbeit geworden, daß wir die Defizite des modernen Intellektuellen immer wieder mit einem gewissen Genuß aufspießen. Unser letztes Doppelheft zum Thema Moral richtete sich zum Beispiel gegen die moralisierenden Intellektuellen. Die Definition von jemandem wie Heinrich Böll, ein Intellektueller sei ein Spezialist fürs Allgemeine, das halten Bohrer und ich für ein Klischee. Daß jemand als Dichter oder Intellektueller glaubt, besonders gesalbt zu sein, das lehnen wir ab.
Ein Thema, das sich in vielen Aufsätzen der frühen Jahre bis hinein in die Sechziger durchzieht, ist der Verrat. Verrat im Zusammenhang mit der Atombombe, Verrat im Zusammenhang mit dem Krieg, und schließlich, im ersten „Merkur“-Aufsatz von Alexander Kluge, mit der „Spiegel“- Affäre. Was hatte es damit auf sich?
Von heute aus gesehen scheint mir Verrat eher eine Metapher zu sein, die selbst noch dieser Intellektuellenverehrung geschuldet ist. Beim Verrat geht es für den Merkur der fünfziger und sechziger Jahre um das Tragische, das man unschuldig schuldig ist. Ich lese das heute nicht mehr so gern, weil diese Lust am Abgründigen deutlich vorschmeckt. Verrat gehört auch zum Syndrom des Moralismus.
1968 schreibt Bohrer einen enthusiastischen Artikel über die Aktionen der Studenten, der sich bewußt vom Vorwurf des Linksfaschismus absetzt, wie er aus der liberalen Presse geäußert wurde. War da Schluß mit der Distanz?
Bohrer war 1968 bei der FAZ, und eine seiner größten Stärken als Journalist bestand darin, daß er eben als Ästhetiker an ein Thema herantrat, nicht über das konservativ Vorgegebene. Er hatte gute Kontakte zu Achtundsechzigern, war eine Zeit mit Ulrike Meinhof befreundet und hat sich aus diesen Kenntnissen heraus positiv über die Bewegung geäußert. Paeschke wiederum war als Protestant von der Risikobereitschaft der Studenten beeindruckt. Damals fiel mir der Merkur auf, den ich normalerweise als Student nicht las, weil er als konservativ galt – ich las Kursbuch oder Freibeuter –, weil selbst ein Erzkonservativer wie Hermann Lübbe die Studenten mit Schillerschen Figuren verglichen hat, und zwar mit allem Respekt. Franz Mohr!
Wie paßte die Frankfurter Schule in dieses Milieu?
Adorno hat eine Reihe bedeutender Aufsätze bei uns geschrieben, Scholem ebenso, und in gewisser Weise hat Jürgen Habermas im Merkur sein Debüt gehabt. Habermas hat mir mal erzählt, durch einen Merkur-Artikel sei Adorno auf ihn aufmerksam geworden, und Habermas war dann über Jahrzehnte einer der wichtigsten intellektuellen Mitarbeiter der Zeitschrift. Die Frankfurter Schule wurde als die bessere deutsche Tradition betrachtet. Die Kritik an ihr setzt Ende der achtziger Jahre ein, einfach mit dem Nachwachsen einer neuen Generation. Da muß man eben anfangen, an den eigenen Defiziten zu arbeiten. Es gibt aber keinen Dissenz mit der Frankfurter Schule. Der Nachfolger von Jürgen Habermas, Axel Honneth, hat früh bei uns geschrieben, auch Helmuth Dubiel und andere; nur Habermas schreibt seit 1989 nicht mehr im Merkur, denn er hat bekanntlich eine andere Position zur Wiedervereinigung gehabt als wir und hat sich also zurückgezogen.
Wie ist denn der „Merkur“ mit der Depression der siebziger Jahre umgegangen, dem Scherbenhaufen der Studentenbewegung?
Die Ablehnung des RAF-Terrorismus war eindeutig, aber im Gestus waren die Essays abwägend und eher um Verständnis bemüht. Eine bestimmte Form von Scharfmacherei, wie sie zum Teil in der bürgerlichen Presse stattfand, war nie Sache der Zeitschrift und ist ja für eine Monatszeitschrift überhaupt ganz absurd. Sie hat nur ein Lebensrecht im Verhältnis zur Tagespresse, wenn sie sich zurücklehnen und reflexiv sein kann. Damals spielten auch Theologen noch eine große Rolle im Merkur, Dorothee Sölle beispielsweise; das haben Bohrer und ich in den achtziger Jahren beendet.
Ein gewisses Moment von Fortschrittsskepsis gab es auch immer; Günther Anders schrieb über die Herrschaft der Motoren, Sie selbst haben John Wayne in dem Film „Liberty Valance“ als jemanden gedeutet, der der Zivilisation zum Opfer fällt, die er zuvor mit Gewalt durchgesetzt hat...
Ja, das gab es von Anfang an. Gegen den Fortschrittsoptimismus hat Paeschke den apokalyptischen Kritiker Anders stark gemacht. In den siebziger Jahren war das gegen eine andere Fortschrittsideologie gerichtet, gegen das eigentlich richtige Motto „Mehr Demokratie wagen“. Ich finde den Benjaminschen Gedanken, dialektisch mit dem Schlechten und dem Guten des Fortschritts umzugehen, nicht unbedingt mit den Siegern Arm in Arm zu gehen, sowohl persönlich als auch als Herausgeber reizvoll. Seitdem es die organisierten Grünen gibt, macht es mir heute wiederum also eher Spaß, deren apokalyptische Vorstellungen anzuknacken.
Hat der „Merkur“ sich in irgendeiner Form am Historikerstreit beteiligt?
Es war kein Historikerstreit, es war ein politischer Streit, und wir waren ganz eindeutig auf seiten von Habermas. Wir hatten zwei Jahre vor dem Historikerstreit einen Beitrag des Zeithistorikers Martin Broszat, in dem er sich für eine „Historisierung des Nationalsozialismus“ aussprach. Als ich das Manuskript bekam, war mir klar: Das gibt Ärger. Daß die Linke darauf nicht angesprungen ist, obwohl es gerade aus Frankfurt ein gewisses Grummeln gab, lag daran, daß Broszat ein Guter war, ein ausgewiesener Linker. Erst als dann Nolte, mit der publizistischen Macht der FAZ im Rücken, in ganz anderer Weise über solche Fragen sprach, schlug man – zu Recht – zu. Daß der Historikerstreit von uns, von den Linken, gewonnen wurde, dafür ist wissenschaftlich ein hoher Preis gezahlt worden, das sieht man jetzt. Nicht nur, daß man Erinnerung nicht verordnen kann, sondern auch, daß mit dem starren Blick in die Vergangenheit die Gegenwart zu entschwinden droht. Es trägt beispielsweise dazu bei, daß die real ablaufenden Genozide nicht die Publizität finden, die sie haben müßten. Öffentliche Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource.
Furore hat auch ein Artikel von Karl Heinz Bohrer zur Wiedervereinigung gemacht, in dem anklingt, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, wenn ein paar Köpfe gerollt wären...
Bohrer galt in Deutschland als Scharfmacher, spätestens seit seinem Artikel zum Falkland-Krieg, in dem er die deutsche Kritik an den Engländern als neues Appeasement bezeichnete. In dem Artikel zur Wiedervereinigung zitiert er einen Satz des französischen Intellektuellen Joseph Rovan, daß eine Revolution ohne Blutvergießen keine ist. Aber man kann nicht sagen, daß Bohrer in dieser Glosse zum Aufhängen von SED-Leuten aufruft. Ich war nicht seiner Meinung, aber der Skandal, den dieser Artikel hervorgerufen hat, war weit überzogen.
Ihnen war die ungekürzte Fassung von Botho Strauß' „Anschwellender Bocksgesang“ auch angeboten worden – haben Sie sich nachher nicht geärgert, diesen Text abgelehnt zu haben?
Wenn er gut geschrieben und klar argumentiert gewesen wäre, hätte ich gern etwas gedruckt, wo Herr Strauß sich mit allen guten Menschen anlegt. Aber so war es nicht.
Was machen Sie überhaupt, wenn ein Promi Ihnen einen unbrauchbaren Artikel schickt?
Wir geben ihn zurück. Ich muß sagen, es erfüllt mich mit einer gewissen Genugtuung, einem honorigen Professor einen Artikel zurückzugeben und gleichzeitig einen Text von jemandem zu drucken, der im Merkur seinen ersten Artikel schreibt. Interview: Mariam Niroumand
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