Ein Gesellschaft von Winnern und Losern

■ Der Kriminologe Christian Pfeiffer über die Brutalisierung der Jugendkriminalität

Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist für Erwachsene in der letzten Zeit geringer geworden. Jugendliche dagegen werden immer häufiger beraubt und erpreßt, sagt der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer aus Hannover. Am 10. März stellt er die Ergebnisse seiner neuen Studie über Jugendkriminalität zusammen mit dem niedersächsischen Innenministerium vor.

taz: Jugendkriminalität ist nichts Neues. Wie kommt es aber zu solch extremen Formen wie jüngst in Hamburg, wo eine Jugendgang monatelang ihre Opfer erpressen kann?

Christian Pfeiffer: Wir entwickeln uns immer mehr zu einer Gesellschaft von Winnern und Losern. Einer wachsenden Zahl von Hauptschülern, die keine Perspektive sehen, steht eine große Zahl von Jugendlichen gegenüber, die sich scheinbar alles leisten können. Dieses soziale Gefälle birgt den Konfliktstoff, aus dem die Jugendkriminalität wächst.

Wie sehen die Folgen dieser Entwicklung aus?

Wir beobachten, daß typische Randdelikte wie Handtaschendiebstähle leicht rückläufig sind. Dafür geraten Jugendliche häufiger ins Visier von kleineren Banden wie in Hamburg. Sie werden gezwungen, Insignien ihres sozialen Status wie Jacken oder schlicht Geld abzuliefern. Die Hornhaut, gegen diese Insignien des Wohlstandes unempfindlich zu werden, haben immer weniger benachteiligte Jugendliche. Ein Beispiel: In niedersächsischen Dörfern mit russischen Aussiedlern ist die Gewaltkriminalität dreimal so hoch wie in Dörfern, die keine aufnehmen. Das heißt jedoch nicht, daß die Aussiedler krimineller sind.

Sondern?

Sie sind nicht in die Gesellschaft integriert worden, sie fühlen sich vernachlässigt und haben kein Vertrauen in die Politik. Wir leben in einer Welt der Entsolidarisierung, die sozialen Ränder fransen aus. Wir haben eine Rekordarbeitslosigkeit, aber gleichzeitig werden in den nächsten fünf Jahren 2,6 Billionen Mark an Privatvermögen vererbt.

Nach dem letzten Vorfall in Hamburg werden wieder jene Stimmen lauter, die ein hartes Durchgreifen fordern. Hilft das?

Das ist völliger Quatsch. In den Vereinigten Staaten werden achtmal so viele Täter eingesperrt wie in der Bundesrepublik. Dennoch haben die Vereinigten Staaten die höchste Verbrechensrate der westlichen Welt. Wir müssen versuchen, den Jugendlichen eine Perspektive zu geben, sie zu integrieren. Das ist nicht mit ein paar mehr Sozialarbeitern zu leisten. Der Staat ist pleite, die Kommunen sowieso. Die Bürger müssen also selbst wieder aktiv werden.

Wie soll das gehen?

In Hannover gründet sich gerade eine Bürgerstiftung. Wir bauen zusammen mit Jugendlichen ein Bürgerjugendzentrum. Von Anfang an arbeiten dort Handwerker mit den Jugendlichen zusammen, leiten sie an. Was sie selbst aufbauen, werden sie kaum zerstören. Interview: Per Hinrichs, Hamburg