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Zu 22 Jahren Haft ist Italiens Lotta-Continua-Gründer Adriano Sofri verurteilt worden. Der Historiker Carlo Ginzburg fordert die Revision des Urteils. Für Werner Raith zeigt der Fall auch die Unfähigkeit der Linken zur Aufarbeitung von 68

Herr Minister,

das Urteil des Kassationsgerichtshofes, mit dem die Verurteilung von Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi in letzter Instanz bestätigt wurde, hat eine heftige und häufig konfuse Diskussion ausgelöst. Ich halte einen klärenden Beitrag für notwendig und deshalb wende ich mich an Sie.

Wie Sie wissen, hat die Frage, ob Marinos Anschuldigungen gegen seine angeblichen Mittäter begründet sind oder nicht, in weiten Teilen der öffentlichen Meinung starke Zweifel ausgelöst. Laura Bertol Viale, die als Beisitzerin das Berufungsurteil verfaßt hatte (das später durch ein Urteil der vereinigten Senate des Kassationsgerichts für mangelhaft erklärt wurde), hat vor kurzem gesagt, daß alle Zweifel, die von Journalisten, Politikern und Rechtsanwälten geäußert wurden, „nur eines beweisen: daß sie die Prozeßakten nicht gelesen haben“. Sie empfahl, von den sieben aufeinanderfolgenden Urteilen vor allem „das der ersten Instanz zu lesen, das umfangreichste; das sind 700 Seiten, die die ganze Geschichte von Anfang bis Ende genau darlegen“ (La Stampa, 29. Januar). Vor fünf Jahren schrieb ich ein kleines Buch (dt.: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, Wagenbach 1991), das auf der Untersuchung der Protokolle der mündlichen Verhandlungen des Verfahrens in erster Instanz sowie auf der Urteilsbegründung beruht (insgesamt 753 Seiten). Ich kam damals zu dem Schluß, daß es für Leonardo Marinos Anschuldigungen gegen die Mitangeklagten keinerlei konkrete Belege gab. Erst kürzlich hat Ermittlungsrichter Pomarici das Gegenteil behauptet. Ich habe ihn – nicht aus Anmaßung, sondern der Wahrheit zuliebe – herausgefordert, schwarz auf weiß den Beweis anzutreten. Auf die telefonische Anfrage eines Journalisten der L'Unitá (28. Januar) antwortete Pomarici, es gebe, wie aus dem Urteil hervorgehe, „jede Menge konkreter Belege“; anders gesagt, er hat mir keine Antwort gegeben. In meinem Buch habe ich dargelegt, daß die Argumentationen des erstinstanzlichen Urteils völlig haltlos sind (Seiten 96–110). Ich erwarte eine Widerlegung: vom Verfasser der Urteilsbegründung, von der Richterin Bertol Viale, die sie gelobt hat, oder von irgend jemand anderem, der entsprechend ausgewiesen ist.

Es könnte jemand einwenden, daß Staatsanwalt Gerardo D'Ambrosio geantwortet hat (Corriere della Sera, 29. Januar). Er zählte die drei wesentlichen Elemente auf, die für Marinos Darstellung sprechen: 1) die Beschreibung des Lenkradschlosses des Tatfahrzeugs; 2) die Benutzung eines während eines Raubüberfalls gestohlenen Revolvers; 3) das Gespräch mit dem ehemaligen Senator Bertone vor Marinos Kontakten mit den Ermittlern. Bei Licht betrachtet wurde Punkt 2) nie nachgewiesen, da die Tatwaffe nie gefunden wurde und die Kugel unter den erstaunlichen Umständen verschwand, auf die ich gleich noch eingehen werde; man ging einfach davon aus, daß der beim Attentat verwendete Revolver einer der gestohlenen hätte sein können. Und überhaupt ließe sich diskutieren, ob diese drei Punkte als Beweis für Marinos Glaubwürdigkeit hinsichtlich seiner Beteiligung an der Tat ausreichen. Eines aber steht fest: In Hinblick auf Marinos Anschuldigungen gegen die anderen Angeklagten ist ihr Wert gleich null. Staatsanwalt Pomarici hat erklärt: „Wenn es nur in allen Prozessen, die mit einem Schuldspruch enden, so viele konkrete Belege gäbe wie in diesem Fall!“ Das ist eine Aussage, Herr Minister – und ich sage das wohlüberlegt, nachdem ich die Prozeßakten gelesen und studiert habe –, die mich erschreckt.

Aber damit nicht genug. Konkrete Belege für Marinos Anschuldigungen existieren keine, und ich fordere jedermann heraus, das Gegenteil zu beweisen. Was existiert, ist das Verschwinden und in einzelnen Fällen die Vernichtung von Beweisstücken seitens der Polizei, die vermutlich entscheidende Erkenntnisse zum Mordfall Luigi Calabresi möglich gemacht hätten. (...) Worauf ist das alles zurückzuführen? Auf Zufälle, auf Dummheit, oder auf etwas weitaus Beunruhigenderes?

Herr Minister, was soll man von einem Land halten, in dem die Beweisstücke vernichtet und einem Leonardo Marino Glauben geschenkt wird, weil „er jahrelang Zögling eines Salesianerinternats war und dies zweifellos unauslöschliche Spuren in seinem moralischen Persönlichkeitsbild hinterlassen haben muß“ – wie Richter Ferdinando Pincione, der Verfasser des sogenannten „Selbstmordurteils“ des zweiten Berufungsverfahrens schrieb, das zur letzten Entscheidung des Kassationsgerichts führte? (Sentenza suicida, Selbstmordurteil, wird ein Urteil genannt, dessen Begründung absichtlich dem Urteilsspruch widerspricht, so daß es aufgehoben werden muß. Anm.d.Ü.) Es ist ganz klar, daß das Fehlen konkreter Belege solche Lächerlichkeiten nötig gemacht hat. Es ist offensichtlich, daß das haltlose Beispiel Marinos das Risiko birgt, einen verantwortungsvollen Umgang mit den Kronzeugen in den Mafia-Prozessen zu kompromittieren (...).

Glauben Sie mir, Herr Minister, die Verurteilung der drei Unschuldigen auf der Grundlage von Marinos Anklage stellt nicht nur eine Verletzung der elementarsten Rechtsgrundsätze dar: sie ist etwas weitaus Schlimmeres, ein Fehler. Das Ansehen der italienischen Justiz nimmt Schaden, heute und für die Zukunft. Der einzige Weg, dies zu verhindern, ist der, eine Revision des Verfahrens anzuordnen.

In den letzten Tagen wurden sowohl in Italien als auch im Ausland Parallelen zum Fall Dreyfus gezogen. Ein Journalist lehnte die Analogie mit dem Hinweis ab, daß Hauptmann Dreyfus und Adriano Sofri kaum etwas gemein haben: der eine war Diener seines Staates, der andere ein Revolutionär, und so weiter. Was für eine Entdeckung. Jeder historische Vergleich hinkt. In diesem Fall ergibt sich die Gemeinsamkeit nicht einfach aus der Verurteilung eines oder mehrerer Unschuldiger, sondern aus der Verbissenheit, mit der die Gerichtsbarkeit (im Falle Frankreichs handelte es sich um ein Militärgericht) sich weigert, ihre Fehler einzugestehen. Bekanntlich wurde die Anerkennung von Dreyfus' Unschuld erst nach einer äußerst schweren politischen Krise errungen. 1942 stellte der berühmte Jurist und Philosoph Carl Schmitt verachtungsvoll fest, daß in einem anderen Land als Frankreich eine derartige Spaltung über die zu Recht oder zu Unrecht ergangene Verurteilung irgendeines Hauptmanns Dreyfus durch ein Militärgericht unvorstellbar gewesen wäre. Schmitt war ein Mann mit viel Verstand, ein echter Nazi und ein wahrer Antisemit. Er konnte nicht begreifen, daß die Stärke der Demokratien in der Fähigkeit besteht, die eigenen Fehler zuzugeben. Carlo Ginzburg

Übersetzung: Walter Kögler

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