: "Das war doch jedem Kind klar"
■ Im Politbüro-Prozeß hat das Berliner Landgericht entschieden, die DDR habe beim Grenzregime nicht souverän handeln können. Ferdinand von Schirach, Verteidiger von Günter Schabowski, über die Folgen dieses Be
taz: Im Politbüro-Prozeß hat die 27. Große Strafkammer am Berliner Landgericht Anfang der Woche einen Beschluß gefaßt, wonach die DDR beim Grenzregime nicht souverän gewesen ist. Ist das ein Sieg für die Verteidigung?
Ferdinand von Schirach: Es ist ein weiterer großer Schritt hin zu einer Aufklärung der tatsächlichen Umstände. Ein Sieg der Verteidigung ist es nicht, weil das, was das Gericht jetzt festgestellt hat, doch jedem Kind längst klar war.
Für die Staatsanwaltschaft war das offensichtlich nicht so eindeutig: Sie hat immer die volle Souveränität der DDR unterstellt.
Die Anklage der Staatsanwaltschaft fußt ja auf dem Tatbestand der Unterlassung. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hätte mein Mandant im Politbüro für eine Humanisierung des Grenzregimes eintreten müssen. Indem er es nicht tat, habe er sich strafbar gemacht. Was wäre aber in einem solchen Fall passiert? Entweder wäre Schabowski sofort vom Politbüro abgesetzt oder er wäre bei einer erfolgreichen Aktion von der Sowjetunion gebremst worden. Wenn man nun aber sagt, die Sowjetunion hätte eine Änderung des Grenzregimes nicht zugelassen, müßte es zu einem Freispruch wegen Unterlassens kommen.
Daß die Ansicht der Staatsanwaltschaft auf schwankenden Füßen steht, war von Anbeginn des Verfahrens klar. Schließlich hat das Gericht in seinem Eröffnungsbeschluß die Anklage auf „aktives Tun“ gestützt und ist schon damals von der Theorie der Staatsanwaltschaft abgerückt. Der Vorsitzende Richter Bräutigam hat meiner Einschätzung nach sehr schnell erkannt, daß die Verteidigung stets darauf verwiesen hätte, daß jede Eigenmächtigkeit der DDR-Führung in dieser sensiblen Angelegenheit an der Sowjetunion gescheitert wäre. Mit seinem jetzigen Beschluß hat das Gericht seinen Eröffnungsbeschluß nur noch einmal zementiert.
Konnte das Gericht denn nach den bisherigen Zeugenaussagen zu solch einem Beschluß kommen? Das Gericht kann alles, was vorgetragen wird, als wahr unterstellen. Ich erinnere an den Brief von Egon Bahr [enger Mitarbeiter des damaligen Kanzlers Willy Brandt und Architekt der Entspannungspolitik; die Red.]. Sein Eindruck in den Verhandlungen mit der DDR war, daß sie in außenpolitischen Fragen nicht voll souverän handeln konnte. Erhärtet wird diese Vermutung durch ein Fernsehinterview, das der Hessische Rundfunk mit dem langjährigen sowjetischen Botschafter in der DDR, Pjotr Abrassimow, geführt und das das Gericht auf meinen Antrag hin angesehen hat. Darin sagt Abrassimow: Innerstaatlich war die DDR souverän, in Grenzfragen nicht.
Was bleibt jetzt übrig, wenn die außenpolitischen Aspekte ad acta gelegt worden sind?
In früheren Verfahren wurde festgestellt, daß es eine Befehlskette vom Nationalen Verteidigungsrat der DDR hinunter zum einzelnen Schützen gegeben hat. Die Frage in unserem Fall ist: Gab es ein Verbindungsglied zwischen dem Nationalen Verteidigungsrat und dem Politbüro? Für das Gericht wird diese Beweisführung ein bißchen schwierig werden. Insbesondere nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am DDR-Grenzgesetz nichts Wesentliches auszusetzen hatte. Nur: Es gab Befehle des Nationalen Verteidigungsrates, die dieses Grenzgesetz überlagert haben, von denen aber Schabowski nichts wußte, weil er nun einmal nicht im Nationalen Verteidigungsrat saß.
Aber hätte er davon nicht doch Kenntnis haben müssen?
Das Gericht hat bisher nicht nachweisen können, daß jenen Politbüromitgliedern, die nicht im Nationalen Verteidigungsrat waren, die Befehlslage an der Grenze bekannt war. Ein so exponierter Zeuge wie Gerhard Schürer, Chef der Staatlichen Plankommission der DDR, hat erklärt, daß eine Reihe von Beschlüssen des Nationalen Verteidigungsrates nicht dem Politbüro zugänglich gemacht wurden. Und zwar schon aus dem Grund, weil im Politbüro die Geheimhaltung nicht gewährleistet war.
Aber Egon Krenz saß in beiden Gremien.
Deshalb hat es seine Verteidigung auch bedeutend schwerer.
Also bliebe dem Gericht jetzt nur die Möglichkeit, den Angeklagten ein aktives Handeln nachzuweisen, um sie verurteilen zu können?
Richtig. Dafür müßte das Gericht aber einen Beschluß des Politbüros vorlegen, der etwa den Nationalen Verteidigungsrat anweist, den Gebrauch der Schußwaffe an der Grenze zu regeln. Das war bislang nicht der Fall. Die andere Möglichkeit wäre, und das scheint offenbar die Auffassung des Gerichts zu sein, eine politische Mitverantwortung des Politbüros für die konkrete Situation an der Grenze zu konstruieren. Das halte ich allerdings rechtlich für heikel. Interview: Severin Weiland
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