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„Raus aus dem Alltagstrott“

Die Teilnehmer eines DGB-Bildungsurlaubs wollen ihr Wissen erweitern, aber auch Erfahrungen über den betrieblichen Alltag austauschen  ■ Von Rüdiger Soldt

Das elektrisch betriebene Eisentor erinnert an das Bonner Kanzleramt und der Speiseplan mit „Rindsroulade nach Art des Hauses“ an Jugendherbergsküchen. Mit Findlingen und Hydrokultur ist die Bildungsstätte Pichelssee der IG Metall eine Mischung aus Kreissparkasse und Altenheim, so wie sie in den frühen achtziger Jahren überall in Deutschland gebaut wurden.

Auch das Transparent „Atomfreie Zone“ stammt aus der Zeit der alten Bundesrepublik. Damals trauten sich die Gewerkschaften noch zu, es wenigstens symbolisch mit dem Kanzleramt aufzunehmen, damals haben sich Arbeiter und Gewerkschaften auch ihren Appetit noch nicht durch aufgebackene Spinatkäsetaschen verderben lassen. „Die Speisekarte entspricht aber größtenteils noch der Tradition der Metallgewerkschaft: herzhaft, fleischhaltig und gut“, sagt Frank Heidenreich, pädagogischer Mitarbeiter der Bildungsstätte.

Das Traditionsbewußtsein beschränkt sich nicht nur auf den Speiseplan. Auch der Lehrplan des Seminars „Geschichte der Arbeiterbewegung“ wird dominiert von den klassischen Themen der Arbeitergeschichte: Industrialisierung, Novemberrevolution und Klassenjustiz in der Weimarer Republik. Auf der Literaturliste finden sich Klassiker wie Wolfgang Abendroths „Geschichte der Arbeiterbewegung“.

Der 40jährige Heidenreich, promovierter Historiker und früher engagierter Juso, will mit seinen 15 Seminarteilnehmern nicht Geschichtsdaten pauken, sondern diskutieren. Dazu hat er eine 140seitige Textsammlung zusammengestellt: „Wir können den erfahrenen Kollegen hier keine Vorträge halten. Es geht darum, durch den Blick auf die Geschichte Handlungsmöglichkeiten für die Gegenwart zu diskutieren.“

Die Teilnehmer sind Betriebsratsmitglieder in Emden, Magdeburg, Saarbrücken und Niedersachsen. Ihre Motive, sich in einem zwölftägigen Seminar ausgerechnet mit dem Betriebsrätegesetz von 1920 und dem Kapp-Putsch zu beschäftigen, statt zum Beispiel ein neues Computerprogramm zu lernen, sind unterschiedlich. Einige Seminarteilnehmer wollen über die Grenzen der repräsentativen Demokratie diskutieren, andere möchten die Probleme in ihrem Betrieb anhand von historischen Beispielen besser verstehen.

Gregor Hibner zum Beispiel, der in den frühen 80er Jahren Solidarność-Mitglied in Polen war, sucht eine historische Erklärung für die politische Passivität seiner Kollegen im VW-Werk in Emden: „Ich habe mehrere Jahre im Betriebsrat gearbeitet, bis ich eines Tages gemerkt habe, daß ich nur ein Pferd war, das den Wagen hinter sich herzieht. Um die deutschen Kollegen zu verstehen, fehlte mir einfach das Grundwissen über den Sozialstaat.“

Günter Stil kam mit ganz anderen Erwartungen aus Magdeburg nach Berlin. Der ehemalige Facharbeiter im Schwermaschinenkombinat „Karl Liebknecht“ kennt Arbeitergeschichte nur aus der SED-Perspektive: „In den 40 Jahren DDR bin ich mit einem ganz anderen Geschichtsbild aufgewachsen und so auch manipuliert worden. Jetzt habe ich zum Beispiel gelernt, daß der Spartakusbund nur eine Splittergruppe war.“ Ähnliche Erfahrungen hat Lutz Geydan aus Ostfriesland gemacht. Auch er sieht historische Ereignisse und Persönlichkeiten jetzt differenzierter: „Friedrich Ebert war für mich immer ein Arbeiterverräter. Diesen Schwarz- weiß-Blick habe ich hier abgelegt.“

Zu dem Seminar gehören auch eine Diskussion über Clara Zetkin und ein Besuch der Ausstellung „Topographie des Terrors“. Besonders wichtig, meint Seminarleiter Heidenreich, sei der private Austausch von Erfahrungen mit dem betrieblichen Alltag: „Es werden neue Kontakte geknüpft, aus denen manchmal Freundschaften entstehen.“ Vor allem aber stärkt die fast zweiwöchige Fortbildung das Selbstbewußtsein der Arbeiter. Und das ist auch nötig. Denn wegen der wirtschaftlichen Rezession trauen sich viele Arbeiter und Angestellte nicht mehr, überhaupt Bildungsurlaub zu beantragen. Seit 1991 steht nach dem Gesetz allen ArbeitnehmerInnen alle zwei Jahre ein zehntägiger Bildungsurlaub zu. Allein in Berlin gibt es jährlich etwa 4.800 politische oder berufsbildende Kurse. Aber schon 1994 nahmen nur rund 16.000 Arbeitnehmer, etwa jeder hundertste, das Recht auf Bildungsurlaub wahr. Im folgenden Jahr gingen die Teilnehmerzahlen schlagartig auf knapp 12.000 zurück.

Die Ursachen liegen für Jochen Steiner, Betriebsrat in einer Maschinenfabrik in Aachen, auf der Hand: „Die Zeiten sind schlecht, jetzt wird Druck auf die Leute ausgeübt. Und auf einmal sagt dir dein Chef, daß du entbehrlich bist.“ Durch den starken Konkurrenzdruck im Betrieb sei „die Angst größer als der Wissensdurst“. Auch deshalb sei das „Seminar nach dem Seminar“, die gemeinsame Freizeigestaltung in Berliner Museen und Theatern, so wichtig: „Die Kollegen kommen raus aus dem Alltagstrott, und es wird sehr viel geredet“, sagt Frank Heidenreich.

Jedenfalls tut die IG Metall für die Kommunikation und Geselligkeit in ihrer Bildungsstätte, was sie kann: In der gewerkschaftseigenen Hauskneipe „Zillestube“ kostet das Pils immer noch zwei Mark – so wie damals in den fetten 80er Jahren, als in der Bundesrepublik fast jede Dorfkirche eine atomwaffenfreie Zone war.

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