: Kanthers Sündenböcke wehren sich
Die Visumpflicht für Kinder aus ehemaligen Anwerberstaaten wird vor allem für Geschiedene und Alleinerziehende zum Problem. Ende Februar sind Protestaktionen geplant ■ Aus Berlin Ulrike Winkelmann
Die neue Verordnung zur Kindervisumpflicht sorgt allenhalben für Irritationen. Selbst Experten wie der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Hans-Georg Lorenz, sind derzeit ein wenig ratlos: „Was so eine Maßnahme in der Praxis bewirkt, weiß man erst, wenn man mit ihrer Umsetzung Erfahrungen gemacht hat.“
Seit dem 15. Januar, dies hat Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) im Eilverfahren verordnet, müssen auch unter 16jährige aus den ehemaligen Anwerbestaaten Türkei, Tunesien, Exjugoslawien und Marokko eine Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik sowie ein Visum beim Grenzübertritt vorweisen. Ob die Mehrheit der SPD-regierten Länder im Bundesrat dieser Durchführungsverordnung zustimmen wird und sie damit Gesetzesstatus bekommt, wird sich spätestens im April entscheiden – derzeit ringt die SPD noch um eine einheitliche Linie.
Die Bundesregierung begründete die Verordnung mit der Angleichung deutscher Regelungen an europaweit gültiges Recht sowie damit, daß dadurch Schlepperbanden das Handwerk gelegt werden könnte, die bislang vor allem kurdische Kinder nach Deutschland geschleust hätten.
Mumpitz, weiß Peter Meyer, Berliner Ausländeranwalt, denn gerade diese Kinder hätten, da sie bislang keine Visa brauchten, auch keine Schlepper gebraucht. Wenn, dann würden allenfalls mit der Visumpflicht Schlepperbanden aktiv.
Da überdies die Visumfreiheit, eine Sonderregelung für Kinder aus Anwerbestaaten, eine Folge der deutschen Anwerbepraxis bis 1973 war, zieht Meyer zumindest in Zweifel, ob eine Angleichung der deutschen an die europäische Norm gemäß dem Schengener Abkommen gefordert werden kann.
Zweierlei, vermutet SPD-Anwalt Lorenz, beabsichtigt die Bundesregierung in Wirklichkeit mit der Visumpflicht: „Es soll zum einen die Einreise von Kindern verhindert werden, die nur einen Elternteil hier haben, zum anderen der Familiennachzug.“ Betroffen von der Verordnung sind insgesamt 800.000 Kinder in Deutschland, die sich jetzt bis zum 31. Dezember dieses Jahres ihren Aufenthalt genehmigen lassen müssen.
Schwierigkeiten werden die Kinder bekommen, die in Deutschland bei nur einem Elternteil leben: Anders als früher werden sie nicht bleiben dürfen. „Davon gibt es so viele Fälle, weil sehr viele geschiedene Väter in Deutschland sind, die nur kurz mit einer deutschen Frau verheiratet waren und nun aus der Türkei eine türkische Frau mit Kindern nachholen wollen“, meint Lorenz.
Allenfalls geduldet werden die Kinder, deren beider Eltern in Deutschland von Sozialhilfe oder auch Arbeitslosengeld bzw. -hilfe leben. Viele, gerade türkische Eltern, lassen ihre Kinder in der Türkei zur Schule gehen und wollen sie nach Deutschland holen, wenn sie dort mit 14 oder 15 Jahren fertig sind. Dazu müssen die Eltern nun nachweisen, daß sie „genug“ verdienen, sonst bleibt der Nachwuchs, wo er ist – Schutz von Ehe und Familie hin oder her.
In einer Grauzone lebt bereits jene unbekannte Zahl von Kindern, die sich ohne Eltern bei Onkel und Tanten oder Verwandten zweiten Grades aufhält, denn länger als drei Monate ist dies auch ihnen nicht gestattet. Der einzige Vorteil der Kanther-Verordnung sei daher, daß diese illegalen, oft als Arbeitssklaven mißbrauchten Kinder nun an die Oberfläche geholt und dadurch eine Statussicherung erführen.
Auch Berlins Ausländerbeauftrage Barbara John (CDU) spricht von Kindern, die in Deutschland als billige Hauhaltshilfen, als Kinderbräute und zu anderen „ausbeuterischen Zwecken“ mißbraucht werden. Durch die neue Regelung, so John, werde Verantwortung bewiesen, und Kinder würden vor Mißbrauch geschützt. Quatsch, meint jedoch Anna Bruns, grüne Abgeordnete im Hamburger Rathaus und Sprecherin in Ausländerfragen. Schließlich würden solche Kinder nicht in Sicherheit gebracht. „Die werden zu Hause doch nicht von liebenden Elternarmen empfangen. Die haben sie doch weggeschickt.“
Weniger existentiell betroffen sind all die Kinder, die in den Ferien zu Eltern und Verwandten pendeln: Sie werden zur Erteilung des Visums wochen- oder monatelange Bearbeitungsfristen der deutschen Konsulate in Kauf nehmen und dafür Geld bezahlen müssen. „Mit der Besucherei ist erst einmal Schluß“, sagt Anwalt Meyer lakonisch dazu. „Schikane, Erschwernisse, Sündenbocksuche“, urteilt Hakki Keskin, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und SPD-Abgeordneter in Hamburg, über die Verordnung. „Das Signal ist: „Leute, haut ab, Türken raus.“ Selbst wenn es „Mißbrauch“ gegeben habe, so werde von Kanthers Verordnung die Zielgruppe der etwa zum Drogenhandel eingesetzten Kinder nicht erfaßt. „Leidtragende sind größtenteils die in Deutschland geborenen Kinder der Einwanderer, die mit all dem nichts zu tun haben“, so Keskin. Die türkischen Organisationen rufen daher am 27. Februar zu einem Aktions- und Protesttag auf: Die Kinder sollen nicht zur Schule gehen und mit ihren Eltern um 16 Uhr vor Ministerien und Rathäusern demonstrieren.
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