: So oder so: Algerien wird islamistisch
Der Ex-Nah-Ost-Beauftragte der CIA, Graham Fuller, hat eine Algerienstudie geschrieben. Resümee: die Staatsführung ist am Ende. Die Regierungen in den USA und Europa sollten sich schleunigst mit den Nachfolgern arrangieren ■ Von Reiner Wandler
„Das aktuelle Regime ist intellektuell und politisch bankrott.“ So lautet das Urteil einer US-amerikanischen Studie über den Zustand Algeriens. Die verbotene Islamische Heilsfront (FIS) werde „auf jeden Fall an die Macht kommen“. Verfaßt hat die Studie mit dem Titel „Algerien – der nächste fundamentalistische Staat?“ das renommierte Forschungsinstitut RAND. Erarbeitet hat sie der ehemalige Nah-Ost-Beauftragte der CIA, Graham Fuller.
Nach seiner Darstellung sind drei Wege zu einem von der FIS regierten Staat denkbar: „Ein Sieg der FIS durch einen Zusammenbruch der Regierung oder auf militärischem Wege, einen undemokratischen Deal im Hinterzimmer (zwischen Militär und FIS) oder eine Einigung aller politischer Parteien über das Regime hinweg.“
Jeder Weg hat laut Fuller unterschiedliche Folgen für den Charakter des darauffolgenden Regimes: „Ein revolutionärer Sieg bringt immer die radikalsten Kräfte an die Macht. Unter solchen Bedingungen gäbe es nichts, was die FIS zur Mäßigung und zum demokratischen Regieren zwingen könnte.“
Ein Abkommen zwischen Militär und FIS „wäre nur wenig legitimiert und erleichtert somit spätere Verletzungen der demokratischen Spielregeln“, hätte aber gleichzeitig den Vorteil, „daß die FIS Erfahrung bei der Machtausübung sammeln kann“.
Ein Bündnis aller Oppositionsparteien wäre wie bereits 1995, als sich die wichtigsten Parteien Algeriens mit der FIS im Kloster Sant Egidio bei Rom trafen und einen nationalen Einigungsprozeß forderten, zum Scheitern verurteilt, wenn nicht „starke westliche Unterstützung“ dafür sorge, daß sich die Opposition „gegenüber der Junta durchsetzt“. Die FIS wäre bei einer solchen Lösung „sicherlich die stärkste, aber nicht die alles dominierende Kraft“.
Fuller zieht all diesen Szenarien erneute Parlamentswahlen vor. Denn dann müsse „die FIS ihre politische Stärke unter Beweis stellen“. Die FIS wäre danach möglicherweise die erste islamistische Kraft überhaupt, die in freien Wahlen an die Macht käme. Genau darin liege die große Chance, daß Algerien „nicht gezwungenermaßen den gleichen Weg wie der Iran oder der Sudan einschlägt“. Ein Wahlsieg würde auf die FIS „einen deutlichen psychologischen und moralischen Druck ausüben, die Demokratie danach nicht zu unterbinden“, auch wenn es dafür keine Garantie gebe.
Außerdem wäre die Politik einer solchen Regierung einem ständigen „öffentlichen Test“ ausgesetzt. Angesichts der unzähligen, vor allem wirtschaftlichen Probleme, vor denen Algerien steht, „wird die FIS wahrscheinlich auf vielen Gebieten keine Erfolge aufweisen können, auf denen bereits ihre Vorgänger gescheitert sind.“ Dies würde die Entwicklung der FIS „hin zu einer normalen Partei“ begünstigen.
„Islamistische Bewegungen werden normalerweise nicht exportiert“, versucht Fuller Bedenken zu zerstreuen, ein von Islamisten regiertes Algerien könne eine Gefahr für den ganzen Mittelmeerraum darstellen. Die derzeitige Instabilität des Landes sei wesentlich gefährlicher. Bis in Nato- Kreise populäre Vergleiche der islamistischen Länder mit den früheren Warschauer-Pakt-Staaten weißt Fuller ab: Der Islamismus habe „kein Zentrum, keine ,Islamintern‘, keine eindeutige internationale politische Linie, keine absehbare Blockbildung“. Vielmehr beziehe sich die islamistische Politik „auf lokale traditionelle Kulturen“ und sei eine Antwort auf länderspezifische Mißstände, meist sozialer Art.
Für die US- Regierung, die bis vor wenigen Monaten rege Kontakte zu Exilpolitikern der FIS unterhielt und immer wieder die Repressionspolitik der Militärs anklagte, ergäbe sich im Fall Algeriens die einzigartige Chance, die, durch die ständige Krise mit dem Iran, traditionell schlechten Beziehungen zur islamistischen Bewegung aufzubessern. „Die FIS hält die USA gegenüber dem Islam für ,objektiver‘ als Europa“, schreibt Fuller. Die FIS bevorzuge „die Fremdsprache Englisch – als kulturell neutrale Sprache – gegenüber dem Französischen“. Zudem seien unter den von radikalen islamistischen Gruppen in Algerien ermordeten Ausländern „bisher keine US-Bürger“. Eine Distanzierung Washingtons von den algerischen Islamisten, wie sie sich seit der Verhaftung des in den USA lebenden Sprechers der verbotenen FIS-Parlamentsfraktion, Anouar Haddam, im Dezember abzeichnet, könne nur Schaden anrichten – denn: Einmal an der Regierung, werde „die FIS wahrscheinlich US-Investitionen in Algerien begrüßen und enge Handelsbeziehungen zu den USA aufbauen“.
Zwar hätten die USA „nur begrenzten Einfluß“, um den derzeitigen Präsidenten Liamine Zéroual zu demokratischen Wahlen unter Einschluß aller politischen Kräfte des Landes zu zwingen. Jedoch könne Washington beim „Entstehen eines westlichen Konsenses“ behilflich sein. Besonderes Augenmerk richtet Fuller dabei auf die Anrainerstaaten des westlichen Mittelmeers, Spanien, Italien und Frankreich.
Tatsächlich regt sich jenseits des Mittelmeers derzeit etwas in Richtung auf eine Algerieninitiative. Auslöser ist der gerade zu Ende gegangene Ramadan. Der islamische Fastenmonat war der blutigste in der algerischen Geschichte. Mindestens 300 Menschen wurden ermordet.
Italiens Außenminister Lamberto Dini spielt derzeit mit dem Gedanken, der EU eine internationale Algerienkonferenz vorzuschlagen. In Frankreich ist Algerien Anlaß für politische Auseinandersetzungen, seit der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Lionel Jospin, in einem Interview die Unterstützung der algerischen Militärs durch die Regierung Juppé scharf kritisierte: „In Europa bewegt sich niemand, weil sich Frankreich nicht bewegt“, sagte der Oppositionsführer. Ex- Präsident Giscard d'Estaing wurde noch deutlicher: Er fordert die Zulassung aller Parteien für die im Frühsommer anstehenden algerischen Parlamentswahlen. Auch wenn er die FIS dabei nicht direkt benannte, ließ er keinen Zweifel daran, wer gemeint war: „Wenn es 1991 legitim erschien, daß sich einzelne Parteien zur Wahl stellten, sehe ich keinen Grund dafür, daß sie heute nicht wieder teilnehmen sollten.“
Doch Premierminister Alain Juppé möchte weitermachen wie gehabt. Es sei „notwendig über Algerien zu reden, aber nicht um Sachen zu sagen, die die Situation nur noch komplizierter machen“. Von einer Wahlbeteiligung der FIS will Juppé nichts wissen. „Wir unterstützen nur eine Partei: die Demokratie.“ Und die scheint Frankreichs Premier bei den regierenden Militärs, denen er jährlich mit fünf bis sechs Milliarden Francs unter die Arme greift, gut aufgehoben.
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