: Behinderte kahlgeschlagen!
■ Der stammelnden Power-Ranger-Generation zum Vorbild: Eine Presseerklärung der Lehrergewerkschaft GEW, als Literatur gelesen und gewürdigt
Die Analphabetisierung der deutschen Schülerschaft schreitet voran, und wem obliegt, das zu beklagen? Der Lehrerschaft, versteht sich. Dabei wäre Hilfe möglich und Rettung nah, orientierten sich die stammelnden und stotternden Power-Ranger-Glotzer nur an ihren nächstliegenden Vorbildern, den Lehrern selbst. Jeden Abend zum Beispiel eine kleine Presseerklärung der Lehrergewerkschaft GEW Bremen unters Kopfkissen gelegt – und alles würde gut.
Nehmen wir exemplarisch die „Erklärung des GEW-Landesvorstandes zur Situation beim Berufsbildungswerk des Reichsbunds in Bremen“ vom 18.Februar1997. Die Überschrift zeigt in kaum zu überbietender Deutlichkeit, wie man einen Gedanken auf den Punkt bringt: Sozialpolitischer Kahlschlag der Bundesregierung macht auch vor Behinderten nicht Halt! Welch drastische Metaphorik: Behinderte, wie sie kahlgeschlagen werden, weil ihnen die Regierung das letzte Haar vom Kopf frißt! „Halt“ ruhig mal groß geschrieben, um den Leser aus seiner Leserlethargie zu reißen! Das ist er: der souveräne Umgang mit Sprache, wie ihn die Gameboy-Generation so schmerzlich vermissen läßt.
Und weiter geht's in der guten und schönen Tradition des dialektischen Besinnungsaufsatzes: Die gebetsartige Wiederholung seiner selbst erfundenen Formel von der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende läßt den Kanzler und seine Bundesregierung im konkreten Handeln offenbar völlig kalt. Hier ersetzt die Lehrergewerkschaft ein übles Klischee („gebetsmühlenartige Wiederholung“) durch den klanglich und inhaltlich weit überlegenen Begriff „gebetsartige Wiederholung“, also eine Wiederholung nach Art der Gebete (etwa: „Lieber Gott, lehre unsere Schüler besser zu schreiben, lieber Gott ...“). Staunen verbreitet ein vernichtendes Bild vom Kanzler, wie es in seiner Präzision und Schärfe nur der Satzschmiede der Bremer GEW gelingen kann: Der Kanzler hat offenbar eine Formel erfunden, wie Arbeitslosigkeit, also die Abwesenheit von Arbeit, halbiert werden kann.
Die Hälfte von Null – sie ist ge-, ach was: erfunden! Diese Formel wiederholt der Kanzler, und die Wiederholung läßt ihn offenbar völlig kalt. Ist das Zynismus, Taubheit oder sogar schon wieder Kahlschlag? Ist das noch ein Mensch, den eine gebetsartige Wiederholung kalt läßt? Und dann noch im konkreten Handeln???
Der Kanzler: eine Fratze, und doch reagiert die GEW nicht ausfallend oder aggressiv, sondern feinsinnig und subtil mit der Feststellung der verheerenden Folgen der hemmungslosen Kahlschlagpolitik des Kanzlers, die unvermeidlich das Heer der Arbeitslosen weiter vergrößert. Die Vergrößerung des Heeres duch Verheerung – das ist Dialektik, Dianetik und Didaktik in einem! Sie (die Bundesregierung, d.Red.) schreckt auch nicht mehr davor zurück, Rehabilitationsansprüche junger Menschen je nach Kassenlage zu manipulieren. Wer assoziierte da nicht „Klassenlage“?! Wer verstünde da nicht, daß dieses Land von Teufeln regiert wird, die so weit gehen, Ansprüche zu manipulieren. Das ist Orwell! Je nach K(l)assenlage! Die gemeinsamen Interessen von Auszubildenden wie Beschäftigten erfordert Solidarität.
Die Interessen von „Auszubildenden wie Beschäftigten“ sind eben so dermaßen gemeinsam, daß es sich letztlich um ein einziges Interesse handelt, welches entsprechend im Singular „erfordert“. Die Interessen erfordert also Solidarität, aber wofür? Für den Erhalt! Von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Solidarität für den Erhalt! Dafür kämpft es sich quasi von allein!
Nun nun, lesen wir genau, ein solcher Text hat es verdient: Von „Kämpfen“ redet die Lehrergewerkschaft nicht, sie geht erbarmungsloser noch zur Sache: Eine solche Finanz-/Politik (...) werden wir weiterhin öffentlich scharf kritisieren. Und noch ein Pfeil steckt im Köcher: Der geschäftsführende GEW-Landesvorstand wünscht den Auszubildenden und Beschäftigten des Reichsbund Berufsbildungswerks viel Erfolg bei der Durchsetzung ihrer Forderungen. Scharfe Kritik an der „Finanz-/Politik“ und gute Wünsche andererseits: die neue geschäftsführende GEW-Doppelstrategie in nuce.
Gedankliche Stringenz, absolute Textsicherheit, ein souveräner Umgang mit der deutschen Muttersprache – da wollen wir uns alle eine Scheibe abschneiden und können nicht anders, als mit der GEW zusammen auszurufen, oder besser noch aufzurufen: Die GEW ruft daher ihre Mitglieder, die Beschäftigten der in der Nähe gelegenen Bildungseinrichtungen und insbesondere alle Sonderschulen in Bremen auf, sich am Dienstag, den 25. Februar um 10 Uhr am Protestmarsch vom Reichsbund Berufsbildungswerk zum Rathaus zu beteiligen. Besonders die Beschäftigten der in der Nähe von GEW-Mitgliedern gelegenen Bildungseinrichtungen werden ein machtvoller Block sein, dicht gefolgt von allen backsteinernen Sonderschulen Bremens – da droht dem Rathaus am Dienstag der ultimative, gebetsartig wiederholte Kahlschlag. Aber hallo!
Burkhard Straßmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen