Furchtbar verloren

■ Deutschland im Winter, kein Glück: „Frost“ von Fred Kelemen im Forum

Es war vielleicht so halb drei im Foyer des Delphi, als eine ältere Dame auf den schwarzbeanzugten Filmemacher Fred Kelemen zuging, ihm die Hand reichte, höflich nach Worten suchte, um dann – sie hielt die Hand von Fred Kelemen noch – zu sagen, wie sehr sie seine „Konsequenz“ bewundere. Wie konsequent er sich dem Diktat der schnellen Schnitte verweigert habe, daß er etwas ganz Eigenes geschaffen habe usw.

Man brauchte den viereinhalbstündigen „Frost“ nicht sehen, um zu wissen, daß sich der anfangs vollbesetzte Saal während der Vorführung ziemlich leeren würde. Erstaunlich allerdings, daß einige erst eine halbe Stunde vor Schluß gingen. Selber schuld. Sie verpaßten die besten Szenen des Films.

So konsequent wie sein Vorbild, der ungarische Filmer Béla Tarr, dessen preisgekrönter „Satanstango“ (1994) sechseinhalb Stunden dauerte, ist Kelemens Mut zur Langsamkeit nicht. Nach zwei, drei Minuten kommt doch der Schnitt. Und mit „Mut“ hat das langsame Erzählen natürlich auch nichts zu tun; eher mit eigenen Vorlieben und Institutionen, die solche Filme glücklicherweise immer noch finanzieren.

„Frost“ spielt Ende Dezember in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern und erzählt die Geschichte einer jungen Frau – Marianne –, die mit ihrem siebenjährigen Sohn vor den Mißhandlungen des Vaters flieht. Sie verläßt Berlin, um in ihrer Heimat auf dem Lande in Ostdeutschland Schutz zu finden. Auf ihrer Reise begegnet sie diversen Männern, von denen sie regelmäßig mißhandelt wird. Die Sexualität ist eine trostlose Angelegenheit, und der kleine Michael muß sich immer wieder anschauen, wie seine Mutter mißbraucht wird. Dann drückt er sich immer an seinen großen Teddybär. Einmal sucht eine Lesbe auch Liebe beim Kleinen. Unklar, ob's ihm gefällt. Silvester, in einem Kleinstadthotel, finden Mutter und Sohn zunächst Frieden. Dann findet sie der Vater. Dann gibt es eine Katastrophe.

Der Sohn, ab und an im Nebel verloren

Lang und schön sind die winterlichen Einstellungen, mit denen Kelemen seine Geschichte erzählt. Sehnsüchtige Blicke aus dem Zugfenster; karge menschenleere Felder, gefrorene Seen, verschneite Feldwege. Ab und an geht der Sohn im Nebel verloren. Dann hört man minutenlang die Stimmen von Mutter und Kind. „Michael, Michael“ – „Mama, Mama“. Da lacht man im Publikum. Man ist ja erwachsen.

Peinliche Mutter-Kind-Kitsch- Szenen; alle Männer, denen die liebebedürftige Mutter begegnet, sind triebverfallene Monster. Einige Einstellungen zitieren unverfroren aus Béla Tarrs „Satanstango“; irgendwann schwebt der Kleine auch schneidersitzend durch den Raum, als hätte er zuviel transzendentale Meditation gemacht; das Ende kommt so abrupt, als hätte Kelemen nicht gewußt, wie er aus dem Film raus soll.

Stimmt alles, und trotzdem beeindruckt „Frost“. Vor allem, weil Kelemen Berlin und die ländliche DDR filmt, als handle es sich um Osteuropa. So sehnsüchtig und melancholisch sieht das alles aus. So begegnet das einem, wenn man traurig durch die Gegend fährt. Auch kann ich mich an keinen ambitionierten deutschen Film erinnern, in dem man einen evangelischen Gottesdienst gesehen hätte. Diese seltsam sperrige Trostlosigkeit der Stimme des Pfarrers, die in der Kleinstadtkirche verhallt. Jeder andere hätte es peinlich gefunden, so etwas zu filmen. Oder: diese fremden, roten, traurigen Dorfgesichter. Oder auch diese Männer, die nicht nur denunziert werden in ihrer Gewalttätigkeit, sondern selber auch furchtbar verloren wirken.

Am schönsten ist eine halbdokumentarische kleinstädtische Kneipenszene gegen Ende des Films, die aus der Perspektive einer haltlosen Betrunkenheit gefilmt wurde. Die trunkene Wahrnehmung zerfällt in bedeutungsvolle Fetzen. Das Auge oder die Kamera bleibt an Nebensächlichem hängen; den Kneipengesichtern, kleinen Gesten, wie jemand seinen Finger in den Bierschaum taucht und ihn dann ableckt usw. Am besten ist der Ton – als hätte man grad Fieber: Rülpsen, betrunkene Gesprächsfetzen, die quakende Stimme einer älteren Frau, die immer wieder was vom harten Winter 1945 erzählt. Im Hintergrund ebbt deutsche Schlagermusik á la „Ich lieb dich – ich lieb dich nicht“ hallend auf und ab. Man ist zu betrunken oder zu fiebrig, um das als Ganzes wahrzunehmen. Für diese Szene, die in einer Gaststätte in Groß-Ziethen aufgenommen wurde, hat Kelemen Ton und Bilder getrennt aufgenommen. Das heißt, zunächst wurde der Ton der Gäste aufgenommmen, die ohne Hintergrundmusik am Trinken waren, dann die Musik, dann erst die Bilder.

Wunderbare Szenen. Wenn Kelemen sich von ein, zwei Stunden getrennt hätte, wäre der Film herausragend gewesen. Detlef Kuhlbrodt

„Frost“. Deutschland 1997, 270 Min. Regie: Fred Kelemen. Mit Paul Blumberg, Anna Schmidt u.a.