: Wenn das Leben irgendwie „geschieht“
50 Jahre lang führten Erfurter Gymnasiastinnen ihr „Klassenbuch“. Hier spricht eine Frauengeneration, die über den Alltag und selbstgewählten Machtverzicht das eigene Leben vergißt ■ Von Vera Gaserow
Nein, das war nicht geplant. Das inzwischen arg zerfledderte Buch sollte kein historisches Dokument werden. Es war eher ein Schwur, den die Schulabgängerinnen des Erfurter Mädchenlyzeums 1932 ablegten. Um sich nach dem Abitur nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren, sollte künftig ein Klassenbuch durch die eigenen Reihen kursieren. Jede von ihnen sollte das Buch wie einen Rundbrief nach spätestens acht Tagen weiterschicken. Fast fünfzig Jahre lang blieben die Erfurter Schulabgängerinnen durch das Büchlein in Kontakt.
Das Klassenbuch überlebte den Krieg, war jahrelang verschollen, überlistete die deutsch-deutsche Teilung, und wurde immer wieder kreuz und quer durch die Lande geschickt. Oft findet sich jahrelang kein Eintrag, dann gelingt es überraschend wieder, die Lücken in den biographischen Aufzeichnungen zu schließen. Die Frauen schreiben einander ohne dokumentarischen Anspruch und ohne analytischen Filter – und liefern gerade damit ein beredtes Zeugnis einer Frauengeneration – einer Generation die zwei Weltkriege erlebt, die selbst noch unentschieden ist über die eigene Rolle als Frau und der das Leben meist irgendwie „geschieht“.
„Ach Kinder, das Leben ist so schrecklich interessant. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen. Ich bin mächtig stolz, als erste in das so viel umstrittene Berufsleben hineingetreten zu sein“, so beginnt der erste Eintrag von Erika, den sie als angehende Gärtnerin 1932 ins Klassenbuch schreibt.
27 Jahre später, 1959, notiert dieselbe lebenshungrige Frau, „wenn alle drei Kinder einmal ihren Beruf haben, dann kann man ja auch an sich denken“. Zwischendrin hatte sie dem Klassenbuch „ein kräftiges Heil!“ gewünscht und „ganz sicher gefühlt, daß es ein gutes Leben sein wird“. Von diesem Leben bleibt später so wenig Eigenständiges übrig, daß sie notiert, „von mir selbst ist weiter nichts zu berichten, als daß man eben immer für alle in der Familie da ist“.
Dabei schien der Abitursjahrgang 1932 zunächst gar nicht auf Orientierung an den Bedürfnissen anderer programmiert. Immerhin hatten alle fünfzehn Mädchen die Hochschulreife – 1932 nicht mehr exotisch, aber auch nicht selbstverständlich. Sie wollten auf eigenen Beinen stehen, einen Beruf erlernen und fast alle haben das auch gemacht. Aber schon bei der Berufswahl stecken sie zurück: Nur eine Hertha, das „Herzchen“, studiert Medizin, bleibt als einzige unverheiratet, wird Ärztin. Die anderen werden Krankenschwester, Gärtnerin oder Buchhändlerin – vor allem aber werden sie auch beruflich Frau ihrer Männer – Pfarrersfrau, Arztfrau, Archäologenfrau, Farmersfrau. Wohin ihre Männer auch gehen, immer ziehen sie mit.
„Wie männerfeindlich wir fast alle waren“, schreibt Ilse, die gelernte Kauffrau, 1944 ins Klassenbuch, „und nun sind wir doch nahezu alle in den Hafen der Ehe eingelaufen, sehen in der Gemeinschaft mit einem geliebten Mann einen tiefen Sinn und eine Erfüllung, und mehr noch in einem gemeinsamen Kind.“ „Hoffen wir, daß die Zeiten wiederkommen, wo wir Teilhaberinnen der Arbeit unsrer Männer sein dürfen, und das Leben wieder einen richtigen Sinn bekommt“, notiert Ursel, die einstige Werbefotografin.
Gewiß, sie alle sind nie nur Hausfrauen, nie nur Mütter, das verbieten schon die kriegerischen und schweren wirtschaftlichen Zeiten. Aber sie sind immer weniger Akteurinnen. Sie rutschen in die Rolle von Opfern dessen, was sie unbestimmt und politisch neutral „das Weltgeschehen“ nennen.
Hitlers Machtergreifung ist dem „Klassenbuch“ keine Zeile wert, das Wort Nationalsozialismus taucht überhaupt nicht auf, jüdische Nachbarn, die abgeholt wurden, gibt es nicht, dafür die „Kameradschaft“ im Reichsarbeitsdienst. Der Krieg, der zweite, den die Frauen erleben, öffnet ihnen nur die Augen für das eigene Leid: die Trennung vom gerade erst geehelichten Mann, der Verlust der Wohnung, schließlich bei einigen „der Heldentod“ des Gatten und frühe Witwenschaft. Nicht ein einziges Mal stellen sich die Frauen die Frage nach der eigenen Mitschuld.
Als Leidtragende „des Weltgeschehens“ kämpfen sie nach dem Krieg gegen das Dauerprovisorium, das ihnen manchmal erst mit 40 Jahren den Einzug in die eigene Wohnung erlaubt. Sie ringen um die materielle Existenz und gegen Mühsal des Alltags, sorgen sich um die Zukunft der Kinder und haben immer weniger über sich selbst zu berichten.
Diese selbstauferlegte politische Abstinenz bis hin zur Verantwortungslosigkeit wiederholt sich später, als die Chronistinnen des Klassenbuchs sich von diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs schreiben. Hinter privaten Details über Haushalt und Kinder, findet selbst der Mauerbau nur einmal und auch nur indirekt Erwähnung: Der Weg zur Arbeit sei nun weiter, berichtet Ilse 1962. Und 1973 schreibt sie: „Das ,Traumhäuschen‘ in Kleinmachnow hüteten wir ... trotz aller Erschwernisse noch über drei Jahre. Immer belastender wurde der so schwer und umständlich gewordene Weg in den Dienst, auch für mich, da ich doch immer wieder als Springer ... für Wochen oder Monate in der Redaktion aushalf“. Ilse nimmt auch „gesellschaftliche Arbeit“ in Kleinmachnow, der Hochburg der Parteigrößen und MfS-Spezialisten, wahr. Sie klagt lediglich über den Zeitaufwand. „Zwar war der Aufgabenbereich sehr interessant ..., aber ich war dann doch froh, daß 1965 durch unseren Wegzug diese Belastung aufhörte“.
Das Leben dieser Frauen wurde bestimmt von großen politischen Umbrüchen und Verhehrungen. Sie aber schreiben darüber, als ob all das sie zwar betrifft, aber nichts angeht. Gerade in dieser Alltäglichkeit bis zur Trivialität liegt der dokumentarische Wert des „Klassenbuchs“, das Eva Jantzen, eine der 15 Frauen, mit Angaben zu den Schreiberinnen versehen und herausgegeben hat: in der authentischen Chronologie, wie aus selbstbewußten Mädchen Frauen werden, die sich nur allzu bereitwillig in einen Alltag verstricken, der sie um gesellschaftliche Mitsprache bringt, aber auch gnädig von jeglicher Mitverantwortung entlastet.
Eva Jantzen/Merith Niehuss: „Das Klassenbuch, Geschichte einer Frauengeneration“. Rowohlt- TB, Reinbeck 1997, 16,80 DM
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