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Gruppenreise mit Dame durch Afghanistan

Abgeordnete der Bündnisgrünen fahren durch Afghanistan: Ins Refugium des Exkommandanten der Regierungstruppen Massud, durch den von General Dostam kontrollierten Norden und nach Kabul – das Reich der Taliban  ■ Von Ahmad Taheri

Die weißverschneiten Berge türmen sich zum Himmel. Der Hindukusch im Winter ist atemberaubend. Doch so recht vermag man die grandiose Landschaft nicht zu genießen: Der Helikopter, ein sowjetisches Erbstück, ist mindestens so alt wie der afghanische Krieg. Manchmal keucht die Maschine, als gehe ihr bald die Puste aus. In den vergangenen Jahren sind in dieser Gegend mehrere Hubschrauber wegen technischer Defekte an Felsen zerschellt.

In Basarak, einem Bergdorf inmitten des Panschirtals, erwartet uns Ahmad Schah Massud, der Exommandant der Kabuler Regierungstruppen. Seitdem der tadschikische Feldherr Ende vorigen Jahres nördlich von Kabul von Taliban, den Koranschülern, geschlagen wurde, hat er sich samt seiner Männer in dieses schwer zugängliche Tal zurückgezogen. Das Panschirtal ist etwa 80 Kilometer lang. Während des Dschihad, des Heiligen Kriegs, gelang es Massud, den Panschir, was „fünf Feuer“ bedeutet, erfolgreich gegen die sowjetische Weltmacht zu verteidigen.

Im Panschir gibt es Silber, Edelsteine und angeblich auch Uran, was das entlegene Tal für die Russen auch wirtschaftlich interessant machte. Als im Oktober vergangenen Jahres die Taliban einige Kilometer in den Panschir vordrangen, sprengte Massud hinter den vorrückenden Koranschülern ein Bergmassiv und nahm eintausend von ihnen gefangen.

In seinem Hauptquartier empfängt uns der charismatische Tadschike. Zum Mittagessen gibt es von den Mudschaheddin geschossene Fasanen. Die Männer, ein Dutzend Kommandanten, essen mit der Hand. Nur der Chef greift zu Ehren der fremden Gäste aus dem Westen zu Messer und Gabel.

„Sie sind noch viel schöner als auf den Fotos“, sagt Rita Grießhaber, Mitglied des Deutschen Bundestages und frauenpolitische Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Sie reist mit einer parlamentarischen Delegation ihrer Partei durchs umkämpfte Afghanistan. Der 46jährige Krieger mit den Mandelaugen und der Adlernase lächelt verlegen, bedankt sich und senkt schamhaft den Blick. „Der Krieg ist keine Lösung des afghanischen Problems“, sagt Massud. Alle Kriegsparteien müßten sich an den Verhandlungstisch setzen. Es müsse eine provisorische Regierung für ein oder zwei Jahre gebildet, die Bevölkerung entwaffnet und eine Verfassung ausgearbeitet werden. Dann solle das Volk in Wahlen die künftige Regierung bestimmen.

Würden die Taliban, die fast 80 Prozent des Landes beherrschen, diesem Plan zustimmen? – „Ich fürchte, nein“, sagt Massud, „das pakistanische Militär und der pakistanische Geheimdienst werden keine Ruhe geben, bis die Taliban das letzte afghanische Dorf eingenommen haben.“ Warum hat er Kabul fast kampflos aufgegeben? Für die Verteidigung des äußeren Sicherheitsrings der Stadt, antwortet er, sei der Premierminister Gulbuddin Hekmatjar verantwortlich gewesen. „Ich habe Hekmatjar mehrfach darum gebeten, die Frontlinie gemeinsam zu bilden. Doch er hat es abgelehnt. Er fürchtete anscheinend, daß meine Truppen die Gebiete nicht mehr räumen.“ Als die Taliban anrückten, seien Hekmatjars Kommandanten scharenweise zu ihnen übergelaufen oder in die Berge geflüchtet. So habe man gezwungenermaßen die Stadt räumen müssen. Aber im Norden Afghanistans würden es die Taliban nicht so leicht haben. Nördlich des Salang-Passes werde sich jedes Dorf gegen die mehrheitlich der Volksgruppe der Paschtunen angehörenden Angreifer zur Wehr setzen, denn inzwischen kenne das Volk das wahre Gesicht der Taliban, meint Massud. Sie seien ein bloßes Werkzeug Pakistans und verdankten ihre Erfolge dem Geheimdienst von Islamabad. Im Panschirtal gebe es vierzig pakistanische Söldner als Gefangene, die früher in Kaschmir gekämpft hätten.

Eine Flugstunde nordwestlich von Basarak ist von der Kampfmoral des „Löwen von Panschir“, wie Massud früher genannt wurde, nicht viel zu spüren. In Mazar e-Scharif, der Residenz des Generals Abdulraschid Dostam, der sich mit Massud und den schiitischen Hisara aus Zentralafghanistan zum „Rat der Verteidigung Afghanistans“ verbunden hat, herrscht Angst und Panik. Viele Generäle und Kommandanten, so hört man, hätten bereits ihre Familien und ihre Dollars in die zentralasiatischen GUS-Staaten geschickt.

Viele hohe Offiziere sollen von den Taliban gekauft worden sein. Die Mehrheit der Bevölkerung, sagt der Leiter einer deutschen Hilfsorganisation, hege im Machtbereich Dostams Sympathien für die Taliban. Bei den Freitagsgebeten, so heißt es, preisen die Prediger „die gottgesandten Koranschüler“. Das Volk sehne sich nach Sicherheit und Ordnung.

Tatsächlich herrscht im Reich Dostams dasselbe Chaos, das in den anderen Regionen Afghanistans den Taliban den Boden bereitete. Auch hier treiben bewaffnete Banden ihr Unwesen. Besonders in ländlichen Gebieten ist die Bevölkerung Willkür, Raffgier und Brutalität ausgeliefert. Nicht nur die paschtunischen Bauern warten auf ihre Volksgenossen, die Taliban, sondern auch viele Usbeken und Tadschiken, die zusammen in den nördlichen Provinzen die Mehrheit bilden. „Sie kommen in unser Dorf und nehmen uns alles weg oder zwingen uns, ihnen unsere Töchter zur Frau zu geben“, sagt Abdulrahim, ein alter usbekischer Bauer. Derlei Klagen über die Dostam-Kommandanten hört man in vielen Dörfern.

„Es gibt auch bei uns viele Ungerechtigkeiten“, räumt Abdulraschid Dostam ein. „Aber denken Sie bitte an die Unmenschlichkeit der Taliban, wie die Entrechtung der Frauen oder Händeabhacken wegen Diebstahl oder die Hinrichtung von Dr. Nadschibullah, der ein international angesehener Poltiker war“, meint der Fünf-Sterne- General. Dostam residiert seit Jahren in einer Militärfestung in der Nähe von Mazar e-Scharif. In seiner Uniform sieht der bullige Militärmann aus wie ein afghanischer Bruder von Saddam Hussein. Auch ansonsten hat er einige Gemeinsamkeiten mit dem irakischen Diktator: Personenkult und eine pathologische Angst vor Attentaten. Nur wenigen traut der zur Macht gekommene Bauernsohn. Die wichtigsten Posten in seinem Machtapparat gingen an Usbeken, die mit ihm verwandt oder verschwägert sind. Sein Bruder etwa, Ghadir Dostam, ist Chef des Komitees für Sicherheit, was eigentlich Geheimdienst bedeutet. Wer in seiner Umgebung zu mächtig wird, lebt gefährlich. General Mumen, ein populärer Tadschike, kam angeblich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Rasul Pahlawan, der zweitmächtigste Mann im Norden, starb unter höchst mysteriösen Umständen. Seinen geistigen Bruder sieht Dostam, der sich nach einer Pilgerfahrt nach Mekka jetzt „Hadschi“ nennt, in den neumuslimischen Staatschefs der mittelasiatischen Staaten der GUS.

Die Taliban, sagt der General, seien eine Gefahr für die ganze Region. Niemals würden die GUS- Staaten es dulden, wenn die radikalen Islamisten bis zum Grenzfluß Amu Dardscha vordringen. Dostam wird von Usbeken und Turkmenen unterstützt. „Die Lösung wäre eine gemeinsame Regierung, an der alle afghanischen Völkerschaften beteiligt sind“, meint der Militärmann usbekischer Herkunft. Würde der General die Herrschaft der Scharia, des islamischen Rechts, akzeptieren, wie von den Taliban gefordert? „Bei uns“, sagt der einstige Kommunist und einstige Duzfreund des von den Taliban hingerichteten Nadschibullah, „herrscht längst die Scharia, aber anders als sie von den Taliban verstanden wird.“

Eine Enklave der Freiheit und des Fortschritts, wie häufig in der westlichen Presse zu lesen ist, ist das Reich Dostams allerdings nicht. Auch in Mazar e-Scharif, der „edlen Grabstätte“, wo angeblich Ali, der vierte islamische Kalif und erste schiitische Imam begraben ist, sind fast alle Frauen von Kopf bis Fuß verhüllt. Selbst Fausija, eine Richterin, die unter den Kommunisten in Kabul Jura studiert hat, trägt den Tschadori, wenn sie im Basar einkaufen geht. „Ohne Tschadori“, sagt die bildschöne Tadschikin, „werden die Basari mich erkennen und versuchen, mir alles billiger zu geben, was Bestechung wäre.“

Die Begründung der Maskerade klingt gut, doch ihr fehlt der Vorzug, wahr zu sein. Viele Frauen aus der akademischen Zunft wagen es nicht, ohne Schleier aus dem Haus zu gehen. Mazar e-Scharif, einst Hochburg der Kommunisten, ist ein Millionendorf und tief in alten, ländlichen Traditionen verwurzelt. Weniger als vor der Zwangsverschleierung durch die Taliban fürchten die Frauen in der Stadt Mazar um ihre Arbeit. „Jeden Tag“, sagt Fausija, „bete ich zu Gott, daß unserer Stadt das Schicksal von Kabul erspart bleibt.“

Neben den berufstätigen Frauen und den Hofschranzen des General Dostam haben die Hisara, die Schiiten mongolischer Herkunft, Angst vor den paschtunischen Zeloten aus Kandahar. Auf den Ruinen der Zitadelle von Balkh, wo einst das Reich Alexanders des Großen blühte, hält eine Schar junger Hisara Wache. Ihre Kalaschnikows sind iranischer Herkunft, das erkennt man am Holzgriff. „Ich habe 100 Kugeln im Gürtel“, sagt Said Abbas, ein halbwüchsiger Bursche, der aussieht, als wäre er der Enkelsohn von Dschingis Khan. „Ich werde 80 oder 90 Kandahari umlegen.“ – Wie alt er sei? „Ich könnte 14 oder 15 sein“, antwortet der Junge, der nicht größer ist als sein Gewehr. – Werden sie gegen die Taliban kämpfen? „Bis zum letzten Mann“, sagt Hassan, der Anführer der Gruppe stolz. – Und warum? „Weil sie uns sonst alle umbringen, wie Masari.“ Der Hisara-Führer, Hodschatollislam Masari, der eng mit Teheran zusammenarbeitete, wurde im März 1995 von den Taliban in der Nähe von Kabul zu Verhandlungen eingeladen, dann aber verhaftet und auf dem Weg nach Kandahar mit seinen Begleitern abgeschlachtet.

Den Haß gegen die Schiiten haben die Taliban von den saudischen Wahhabiten, in deren pakistanischen Koranschulen sie ausgebildet worden sind. Wie für die Wahhabiten ist auch für die Taliban die Schia, die Glaubensrichtung der Schiiten, eine Häresie, die es auszurotten gilt. Außerdem betrachten die paschtunischen Koranschüler die Hisara als fünfte Kolonne der iranischen Mullahs, in denen sie ihre ärgsten Feinde sehen. Teheran unterstützt die entmachtete afghanische Regierung von Burhanuddin Rabbani.

Außer den Hisara, die im Norden eine kleine Minderheit bilden, scheint im Gebiet von Dostam niemand ernsthaft an Widerstand gegen die siegreichen Taliban zu denken. Die Tage des Wendehalses Dostam scheinen gezählt. Sein Reich bröckelt auseinander. In der Nordwestprovinz Badghis sind die Taliban im Vormarsch. In Zentralafghanistan stehen sie am Chibar- Paß unweit der Stadt Bamijan und warten darauf, daß der Schnee schmilzt. Über Chibar können sie den Salang-Tunnel, der von Dostam gesprengt worden ist, umgehen und die flachen Ebenen des Norden erreichen. „Wenn ich die weiße Fahne der Taliban sehe“, sagt Dawud, ein junger Paschtune, „nehme ich meine Kalaschnikow und kämpfe an ihrer Seite.“

Derlei Sympathien für die Koranschüler aus dem Süden sind dem Geheimdienst Dostams nicht verborgen geblieben. Täglich werden angebliche Spione der Taliban verhaftet. Für Aufsehen sorgte unlängst in Mazar e-Scharif die Festnahme von Professor Abdul Ghadas Ghate, einem angesehenen Hochschullehrer. In seinem Haus habe man, heißt es, ein Funkgerät gefunden, mit dem er militärische Informationen gesendet haben soll. „Auf Spionage steht in allen Ländern der Welt die Todesstrafe“, sagt Dostam. „Doch ich bin ein guter Muslim mit einem Herzen voller Barmherzigkeit. Ich werde den Mann ermahnen und ihn begnadigen“, verspricht er zum Abschied der parlamentarischen Delegation aus Deutschland.

Am Flughafen der von den Taliban kontrollierten Hauptstadt Kabul empfängt uns der Protokollchef des afghanischen Außenministeriums. Der bärtige Mann trägt Pluderhose, langes Hemd und eine Mudschaheddinmütze. Vor einem Jahr war er glattrasiert und trug einen grauen Zweireiher. Die deutschen PolitikerInnen nehmen in einem nagelneuen weißen Mercedes Platz, die begleitenden Journalisten in einem BMW älteren Jahrgangs. Die beiden Staatslimousinen, so erfahren wir, seien von den Taliban reichen Geschäftsleuten weggenommen worden. Kaum sind wir im German Club, unserer Herberge, angekommen, gibt es einen politischen Eklat. Mit umständlicher afghanischer Höflichkeit erklärt der Protokollchef, seine Exzellenz, der Vorsitzende des Regierungsrates, Mullah Mohammad Rabbani, erwarte die Gäste zum politischen Gespräch am nächsten Tag um 11 Uhr. Anschließend gebe es im Präsidentenpalast ein Essen. „Bei dem politischen Treffen“, stammelt der Beamte verlegen, „kann die Dame leider nicht dabeisein. Zum Essen ist sie aber herzlich eingeladen.“

„Die Dame“ ist Rita Grießhaber, die frauenpolitische Sprecherin der Fraktion der Bündnisgrünen im Deutschen Bundestag. Die Frauenphobie von Mullah Rabbani, dem neuen Herrscher in Kabul, ist zwar bekannt. Aber daß er sich weigert, eine Politikerin aus Deutschland zu empfangen, kommt recht unerwartet. Die Delegation steckt die Köpfe zusammen und berät über die heikle Lage. Was tun? Die Geschlechtertrennung akzeptieren? Lauthals protestieren oder gar unverrichteter Dinge mit der nächsten Maschine abreisen? Gerd Poppe, als ein Grüner aus dem Osten der Republik gewieft im Umgang mit totalitärer Macht, hat eine salomonische Lösung: Man wolle sich „ohne Dame“ mit Herrn Rabbani treffen, doch unter den gegebenen Umständen könne man der Einladung zum Essen nicht Folge leisten. Die Entscheidung trifft ins Schwarze. Die Taliban sind Paschtunen. In ihrem heiligen Stammesgesetz, dem Paschtuwali, steht das Gastrecht ganz oben. Ein Gastmahl, aus welchen Gründen auch immer, abzublasen, gilt als Schande. Außerdem sind die Taliban auf internationale Anerkennung erpicht und wollen die erste deutsche Delegation nicht vergrämen. Nach einer halben Stunde kommt der Beamte zurück und verkündet mit strahlendem Gesicht, Mullah Rabbani sei bereit, alle Gäste zu empfangen. Am Abend feiern im UNO-Gästehaus die westlichen Mitarbeiter verschiedener regierungsunabhängiger Organisationen mit der Grünen Delegation bei Wodka, Gin und Whisky den Etappensieg der Frauenrechtlerin aus Schwaben über die Mullahs aus Kandahar.

Im Präsidentenpalast hockt Mullah Rabbani im Schneidersitz in einem nachgeahmten Rokokosessel. Noch vor sechs Monaten thronte hier sein Namensvetter, der tadschikische Präsident Burhanuddin Rabbani, der jetzt im Machtbereich von Ahmad Schah Massud Zuflucht gefunden hat. Mullah Rabbani ist Ende 30 und von mächtiger Statur. Ein schwarzer Turban bedeckt sein Haupt. Seine Minister, fast alle Paschtunen, sitzen nach dem Rang ihrer Ämter nach von rechts nach links neben ihm aufgereiht. Rita Grießhaber wird in sicherer Entfernung von Rabbani ein Platz zugewiesen.

Was der neue Herr von Kabul erzählt, ist zur Genüge bekannt. Das afghanische Volk habe 10 Jahre lang gegen die gottlosen Sowjets gekämpft. Der heilige Krieg habe eine Million Muslime das Leben gekostet. Doch die Mudschaheddinführer hätten den teuer erkauften Sieg verspielt. Das muslimische Volk sei von ihnen betrogen, ausgeplündert und geschunden worden. So habe Gott, der Barmherzige, die ehrwürdigen Taliban geschickt, um das Land zu befreien und der Scharia zum Sieg zu verhelfen.

Was mit den Menschenrechten sei, will die Delegation wissen. „Menschenrechte sind Gottesrechte. Was wir machen, ist nach Gottes Gebot“, erwidert der Mullah. Und was sei mit der Entrechtung der Frauen, die die Hälfte der Bevölkerung ausmachen? „Die Frauen haben bei uns alle Rechte“, sagt Rabbani. „Nur verbietet ihnen die Scharia die Arbeit in öffentlichen Ämtern, wo sie mit Männern in Berührung kommen.“ Warum haben die Taliban die Mädchenschulen geschlossen? Nach Ende des Krieges wolle man die Schulen wieder öffnen, denn zur Zeit „ist der Schulweg für unsere Töchter zu gefährlich“.

In Kabul sitzen die Taliban fest im Sattel. Die drakonischen Maßnahmen der paschtunischen Eiferer in anderen Städten haben die Bevölkerung der Hauptstadt so eingeschüchtert, daß sie sich rasch den neuen Verhältnisse angepaßt hat. Vier Wochen nach dem Einzug der Taliban waren die Kabulis ein Volk von tief Verschleierten und geschorenen Bartträgern. Ein junger Mann, der vor einem halben Jahr vor der Hauptmoschee Postkarten mit rundlichen indischen Schönheiten verkaufte, bietet den Passanten jetzt Poster der Kaaba, dem höchsten islamischen Heiligtum in Mekka, an. Ein ehemaliges Videogeschäft in Schahr e-Nau, dem Diplomatenviertel, verkauft jetzt Cola und Kebab. Barbarische Strafen, wie sie in Kandahar oder Herat von Taliban durchgeführt wurden, wie Hände- und Füßeabhacken, sind in Kabul nicht durchgekommen. Nur im Fastenmonat Ramadan wurden Fastenbrecher mit Peitschenhieben bestraft, mit zum Zeichen der Schande schwarz bemahlten Gesichtern durch die Basare geführt. Auch eine Reihe von Frauen, die gewagt hatte, ohne Tschadori, dem sackartigen Gewand, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, sind von der Ehtisab, den Sittenwächtern der Taliban, geschlagen und festgenommen worden.

Die Haltung der Bevölkerung, namentlich der Männer, den neuen Machthabern gegenüber, ist eine Mischung von Angst, Opportunismus, aber auch Erleichterung. „In Kabul ist Ruhe und Ordnung eingekehrt“, sagt ein Hochschullehrer, der nach dem Sieg der Taliban ins pakistanische Peschawar geflüchtet war. „Doch die Freiheit und Zivilisation ist für immer verschwunden.“ Wer die Türen der Universität zuschließe, meint der Professor, der öffne der Dummheit und Barbarei die Tore.

Gleich nach ihrem Einzug in Kabul haben die Taliban die Studenten nach Hause geschickt. Die Universität sei ein Hort des Unglaubens, meinten sie. Der baumbestandene Campus ist menschenleer. In einem eiskalten Zimmer sitzt der Rektor, Ahmad Schah Hasanjar, mit seinen Kollegen zusammen. Die deutsche Delegation wird von zwei Taliban-Aufpassern begleitet. Doch der kleingewachsene Agrarwissenschaftler, der in den USA promoviert hat, nimmt kein Blatt vor den Mund. In einwandfreiem Englisch erzählt er den deutschen ParlamentarierInnen von seinem Kampf für die Freiheit des Geistes. Der Fanatismus, sagt der Rektor, sei ein tödliches Gift für die Gesellschaft. Nur in Pluralismus und Demokratie gedeihe der menschliche Geist. Doch der Mann, der zur Minderheit der Hisara gehört, wirkt wie ein einsamer Rufer in der Wüste.

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